Onkel Arno

Yeşim und Kevin tranken an einem Imbissstand Cola und teilten sich eine Lahmacun mit Schafskäse sowie eine Portion Süßigkeiten. Sie unterhielten sich über belanglose Dinge, die Schule, das Kinoprogramm, Yeşims Bruder Hakan, mit dem sie eine Hassliebe verband – die Geschwister hielten zwar normalerweise Geheimnisse vor den Eltern, verlangten dafür allerdings Geld voneinander – und Kevins Stiefvater und Stiefschwester, die er beide verabscheute.

 Schließlich zahlten sie und gingen in die Dunkelheit hinaus. Sie gingen durch die spärlich beleuchtete Mannertstraße in Richtung Fluss.

 „Weißt du, dass das hier die längste Straße von Nürnberg ist?“, fragte Kevin.

 „Klar, wenn du hier rein kommst, kommst du manchmal erst nach Jahren wieder raus – also lieber auf der linken Seite bleiben, rechts bleiben die Leute zu lange!“ Yeşim wies mit ihrem Finger auf die Mauer des Gefängnishofes.

 Kevin gab ihr einen Ohrstöpsel und sie hörten gemeinsam Musik aus seinem MP3-Player. Schweigend gingen sie nebeneinander her, überquerten die Reutersbrunnenstraße und stiegen einen steilen Trampelpfad zur Pegnitz hinunter. Yeşim, die den Pfad nicht kannte, hatte Bedenken, doch Kevin bot ihr seinen Arm und half ihr die Böschung hinunter.

 „Richtig unheimlich hier, wenn es dunkel ist und kaum Leute hier!“, stellte Yesim fest. „Hier könnten sich jede Menge Verbrecher verstecken.“

 „Wär mir zu gefährlich, wenn ich ein Verbrecher wär – so nah am Knast. Komm, die Verbrechen passieren in der Stadt. Was meinst du, was man zurzeit dort erbeuten kann? Bei dem Gedränge am Christkindlesmarkt!“

 „Stimmt. – Gäbe übrigens ne gute Black Story ab: Ein Mann geht auf den Christkindlesmarkt, bricht mitten im Gedränge zusammen und ist sofort tot. Was ist passiert?“

 „Nicht schon wieder!“

 „Komm, Kev, rat mal!“

 „Hat der Tod was damit zu tun, dass Christkindlesmarkt ist?“ – „Ja!“

 „War der Tote ein Budenbesitzer?“ – „Nein.“

 „Und was jetzt? Wenn wir zu zweit spielen, können wir schlecht wechseln?“

 „Wir können doch weitermachen bis jemand zehn Nein hat oder so.“

 „Lass uns lieber, wenn, dann eine andere Black Story machen, okay, Ye?“

 „Also stört dich irgendwas da dran?“, hakte Yeşim nach. „Du hast ja vorhin schon ausgeschaut, als ob du gleich flennen würdest – sorry!“

 „Ich? Flennen?“, antwortete Kevin empört.

 „Sorry, ich wollte dich nicht beleidigen.“ Nach einer Pause fügte sie hinzu: „Aber ein bisschen neugierig bin ich schon.“

 „Okay, wenn du’s genau wissen willst: Letztes Jahr ist so was Ähnliches in Fürth passiert, weiß nicht, ob du’s mitgekriegt hast – und der Tote war ein Onkel von mir.“

 „Au Mann, das tut mir leid!“ Yeşim umarmte ihn.

 „Herzanfall, hat der Polizeiarzt gesagt. Aber ich glaub’ das nicht. Der Onkel Arno war nicht herzkrank. Klar, er hat geraucht, er hat ziemlich viel Stress gehabt, gerade vor Weihnachten, klar, aber er hatte ne Kondition wie ein Bär. Der ist mit dem Fahrrad Berge raufgekommen, da hab ich sofort aufgegeben und auch mein Cousin Marcel, also sein Sohn, ist ihm nicht nachgekommen und der ist drei Jahre älter als ich und voll gut in Sport.“

 „Meinst du, sie haben ihn umgebracht?“

 „Ja. Und die Tante Iris, also seine Frau, meint, dass die Bullen das auch glauben – bloß beweisen kann man’s nicht.“

 „Wer macht so was? Die Mafia?“

 „Kann sein. Ich hab das Gefühl, die stecken da ziemlich mit drin bei den Weihnachtsmärkten.“

 „Wie’s in der Provinz ist, weiß ich nicht“, antwortete Yeşim, den Blick nach Westen in Richtung Stadtgrenze gerichtet, „aber in Nürnberg ist das noch untertrieben – die stecken nicht drin, das ist die Mafia, sag ich dir.“

 „Erfahrungen gemacht?“

 „Meine Eltern haben mal einen Stand beantragt – sie haben ein Obstgeschäft und verkaufen auch viele getrocknete Früchte, Feigen, Datteln, Pflaumen und so, und viel Süßigkeiten. Aber no chance! Da hängen Familien drin, die da das Sagen haben und die auch mit der Stadt zusammenhängen. Letztes Jahr hat Papa gesagt, wenn er die ganzen Gebühren zahlen und die ganzen Bedingungen erfüllen wollen hätte, die sie verlangt haben, müsste er fünf Euro oder mehr für eine Tüte Mandeln oder einen Kranz Feigen verlangen – vorausgesetzt, er hätte alles verkauft, was er dann nie geschafft hätte. Dieses Jahr hat er’s, glaub ich, gar nicht probiert. Die Platzhirsche verkaufen billiger, klar, aber die müssen auch nicht Irrsinnsgebühren zahlen, damit ihnen jemand den Platz überlässt und kriegen keine Wahnsinnsauflagen von der Stadt, weil die kennen genug Leute, dass sie das nicht müssen.“

 „In Fürth kommst du, glaub ich, noch eher rein. Mein Onkel war letztes Jahr zum ersten Mal auf dem Weihnachtsmarkt – er hat, hatte, eine Konditorei. Aber klar, dass da Leute abkassieren wollen – aber die sind zu schlau, als dass du das je rauskriegst.“

 „Klar, die haben Vitamin B überall.“

 „Und da hat halt ein kleiner Konditormeister wenig Chancen, wenn er kein Schutzgeld zahlt – und ein kleiner türkischer Obsthändler auch nicht – und ist vielleicht besser dran, wenn er gar nicht reinkommt. – Okay, Themawechsel!“ Er zog eine große Tüte Gummibärchen aus seiner Anoraktasche und hielt sie Yeşim hin. Die zögerte kurz. Eigentlich wollte sie ja abnehmen und hatte an diesem Tag schon genügend Süßigkeiten gegessen, aber... Sie griff zu.

 

 

 Oberkommissar Kröber saß kaum an seinem Schreibtisch, als das Telefon klingelte.

 „Hier Beck. Kommen Sie sofort!“, hörte er die Stimme des Polizeipräsidenten. Er schnaubte. Seinen Vorgesetzten hielt er für einen ahnungslosen Wichtigmacher, dessen einziges Talent darin bestand, sich sowohl bei den schwarzen Obrigkeiten des Bayrischen Innenministeriums als auch bei den überwiegend roten der Stadt Nürnberg einschmeicheln zu können.

 Polizeipräsident Beck war ebenfalls übel gelaunt: „Geht es nicht etwas diskreter?“, fragte er scharf und hielt Kröber die neue Ausgabe der AZ unter die Nase. „MORD AUF DEM CHRISTKINDLESMARKT?“ lautete die Schlagzeile. Auf dem Bild war der Stand der Ostermanns mit Polizeiabsperrung zu sehen. „Der Direktor des Tourismusamts hat sich schon beschwert – Kröber, der Christkindlesmarkt ist die größte Attraktion, die wir haben und die Stadt braucht dringend Geld. Was meinen Sie, wie das auf Touristen wirkt?“

 „Ich hab diesen Schmierfinken nichts gesagt“, antwortete der Kommissar. „Und wie soll man ermitteln, wenn es mitten im Gedrängel einen Toten gibt? Klar, dass es auffällt, wenn die Polizei absperrt, aber Spurensicherung geht halt nicht im Gedrängel.“

 „Wie dem auch sei: Passen Sie auf! Schlechte Schlagzeilen sind das Schlimmste, was uns momentan passieren kann – die Stadt braucht jeden Cent, das wissen Sie.“

 Kröber brummte, solange die Stadt es sich leisten könne, dass beim U-Bahn-Bau die Straße fünfmal aufgerissen und wieder zugeschüttet würde, habe sie wohl noch genug Geld.

 „Lenken Sie den Verdacht also nicht gleich auf Mord – das passt nicht zur süßen Weihnachtszeit“, mahnte ihn sein Vorgesetzter. „Und vor allem: Nichts an die Presse! Ich werde offiziell vermelden lassen, dass es ein Unfall war.“

 

 Genervt ging er zurück in sein Büro, wo seine Kollegin Peters schon fleißig bei der Arbeit war.

 „Ich bin schon mal angefangen, mir die Akten zu dem Fall in Fürth im letzten Jahr anzusehen“, informierte sie ihn.

 „Sie sind nicht angefangen, Sie haben angefangen. Und die Westvorstadt heißt nicht Führt, sondern Fürth, mit kurzem ü.“ Meistens verbesserte sie ihn, wenn er Dialekt sprach und so genoss er es, wenn sie einmal Fehler machte.

 „Ist jetzt egal. Die Kollegen haben damals festgestellt, dass auffällig viele Standbesitzer auf dem Weihnachtsmarkt in Fürth“ Sie betonte den Namen mit dem fränkischen, kurzen ü – „ teure Reparaturen an ihren Autos hatten.“

 „Weiter kein Wunder. Letzten Winter hat es ja anständig geschneit – klar, da passieren Unfälle.“

 „Ist möglich. Ich werde das jedenfalls Mal überprüfen.“

 „Wenn’s Ihnen Spaß macht! – Horchen’S: Wenn wirklich da unsaubere Geschäfte laufen, dann haben die das bestimmt so hingedeichselt, dass bei den Werkstätten nichts zu finden ist.“

 „Und was wollen Sie dann machen?“

 „Erst einmal rauskriegen, wer der Tote überhaupt ist. Oder gibt es Vermisstenanzeigen?“

 „Nee. Noch niemand.“

 „Wenn überhaupt, dann kriegen wir was raus, indem wir verdeckte Ermittler auf die Standbesitzer schicken. – Ganz im Vertrauen, Frau Kollegin: Ich kann mir gut vorstellen, dass da Schutzgelder fließen. Ob sie mit unserem Fall was zu tun haben, weiß ich nicht und bis wir was rauskriegen, dauert es.“

 

 Er rief seinen Freund Klaus Denzer vom Ordnungsamt an. Der bestätigte, was Kröber schon vermutet hatte: Der Christkindlesmarkt war fest in der Hand einzelner Schaustellerdynastien. Ob Geld geflossen sei, wusste Denzer nicht.

 „Hm, vielleicht wissen unsere V-Leute bei der Russenmafia was“, sagte Kröber halblaut zu sich selbst, nachdem er aufgelegt hatte.

 „Dachte ich auch schon“, hörte er Kommissarin Peters’ Stimme. „Das Abkassieren ist ja absolut in russischer Hand.“

 Oberkommissar Kröber öffnete die Datei, in der Daten der russischen V-Männer gespeichert waren. „Dazu passt auch, dass der Tote keine Papiere hatte – sie nehmen ihren Killern und sonstigen Lakaien meistens die Papiere und alles, woran man sie erkennt, weg, sobald die nach Deutschland kommen – so kann keiner von denen singen und so tappen wir im Dunkeln, wenn wir ausnahmsweise mal wen erwischen. – So steht’s im Bericht vom Vadim.“

 „In Vadims Bericht“, revanchierte Birgit Peters sich. „Vergessen Sie das Foto nicht. Wenn wir Glück haben, kennt einer unserer V-Leute den Toten.“

 „Richtig. Wenn wir Glück haben.“

 

 

 Yeşim Cokbudak hatte eine unruhige Nacht verbracht. Kevin hatte sie am Vorabend noch heimbegleitet, war aber auf ihre Bitten hin eine Ecke vor dem Haus, in dem ihre Familie wohnte, verschwunden.

 Der Fall hatte ihren kriminalistischen Spürsinn geweckt: Wie konnte man nur herausfinden, wer Kevins Onkel ermordet hatte? Gab es Fingerabdrücke? Sie verwarf den Gedanken. So dumm, an so etwas nicht zu denken, war kein echter Polizist, nur Herr Grimm in Enid Blytons Geheimnis-Reihe, die sie im Grundschulalter verschlungen hatte, inzwischen aber für Kinderkram hielt. Konnte es in der Wohnung von Kevins Onkel etwas geben, was auf den wahren Täter hindeutete? – Das schon eher. Vermutlich hatte die Polizei die Wohnung zwar durchsucht, aber sie wusste aus Erfahrung, welche Schätze plötzlich dort auftauchten, wo niemand sie erwartete. So hatte Hakan einmal einen Anhänger von ihr im Keller gefunden – sie konnte sich das nur so erklären, dass ihr die Kette genau so aufgegangen war, dass der Anhänger in den Vorratskorb gefallen war, jemand diesen in den Keller getragen und dort versehentlich mit den leeren Flaschen und sonstigen Dingen, die nicht ständig gebraucht wurden, weggelegt hatte. 

 Da sie lange wachgelegen war, fiel es ihr am Morgen schwer, aufzustehen. Sie schlief wieder ein und erschrak, als ihre Mutter nochmals in ihr Zimmer kam und sie auf die Uhr sah. Sie musste sich beeilen. Hastig wusch sie sich, zog sich an und frühstückte, wobei ihre Mutter sie ermahnte, nicht so zu schlingen. Sie ließ ihre Teetasse halbvoll, als sie zurück in ihr Zimmer lief – ungeschminkt in die Schule zu gehen, war in ihren Augen ein Unding.

 Als sie sich endlich gestylt hatte, stellte sie fest, dass sie nur noch wenige Minuten hatte, bis der Bus fuhr. Sie zog ihren Anorak über, rannte aus der Wohnung, schlüpfte in ihre Stiefel, in die sie ihre Hose nur notdürftig stopfte und rannte los. Gerade als sie zur Bushaltestelle kam, fuhr das rot-weiße Gefährt ab.

 Sie stieß eine lange Reihe türkischer und deutscher Flüche aus. Sie war vor drei Wochen zum letzten Mal zu spät gekommen, ausgerechnet bei Krisch, dem Pünktlichkeitsfanatiker der Schule – und genau den hatte sie wieder in der ersten Stunde. Andere kamen regelmäßig zu spät und ihnen passierte nichts, da die jeweiligen Lehrer noch später kamen.

 

 Krisch beließ es bei der Bemerkung, beim nächsten Mal sei eine Nacharbeit fällig. Ansonsten verlief der Vormittag ereignislos. Sonja und Yeşim waren inzwischen geübt darin, während des Unterrichts so zu kommunizieren, dass es ihren Lehrern nicht auffiel – die hatten ohnehin genug mit den Jungen zu tun, die mit Papierkugeln schmissen oder beim Schaukeln mit den Stühlen laut genug die Lehne gegen die Tischplatte ihres Hintermanns krachen ließen.

 

 In den Pausen stand Kevin leider mit Jungen zusammen, die auch mit Hakan befreundet waren, weshalb Yeşim es bei einem ‚Hallo!’ beließ, auch wenn es ihr schwer fiel. Das Geld, das Hakan fürs Dichthalten sicher verlangt hätte, wollte sie lieber anders verwenden.

 Am Nachmittag hatte sie neben Hausaufgaben noch Schwimmtraining, sodass ihr erst, als sie abends nach Hause fuhr, auffiel, dass Kevin mehrmals auf ihr Handy gesprochen hatte. Nachdem sie sich von Sonja verabschiedet hatte, musste sie noch ihrem Bruder helfen, die Schachteln und Tüten mit Gebäck, die Tante Emine wie jeden Dienstag und Donnerstag gebacken hatte, ins Geschäft der Eltern zu bringen und dort so zu verstauen, dass sie am nächsten Tag appetitlich aussehen würden. Dafür durften Yeşim und Hakan die nicht verkauften Plätzchen vom Dienstag aufessen.

 Sie achtete darauf, dass ihr Bruder sie nicht übervorteilte, hängte ihren Bikini und ihr Badetuch ordentlich zum Trocknen auf und ging in ihr Zimmer, wo sie sofort Kevins Nachrichten las und abhörte.

 Nicht nur schrieb er, wie sehr er sie vermisste, er berichtete auch, dass er seiner Tante hatte helfen müssen und zufällig genau zu dieser Zeit die Polizei in der Konditorei war. Darüber wollte sie unbedingt mehr wissen!

 Es kostete sie Überwindung, dem Ruf der Mutter, dass Essenszeit sei, zu folgen, statt sofort ins Internet zu gehen und mit Kevin zu chatten.

 

 

 „Das Geschäft Arno Blechschmidts wurde nie durchsucht“, stellte Kommissarin Peters fest. „Hier heißt es nur ‚keine auffälligen Geldbewegungen, keine Fingerabdrücke am Stand hinter der Theke, außer denen Blechschmidts selbst, seiner Frau, seines Sohnes und einer Verkäuferin.“

 „Tja, der Kollege Beringer war eben nicht so preußisch-gründlich wie Sie“, kommentierte ihr Vorgesetzter sarkastisch. 

 „Mir scheint eher, da spielen andere Dinge eine Rolle. Genau bis zum 3. Januar gibt es regelmäßige Einträge, ab dem 4. Januar nichts mehr, aber erst am 29. Januar wurde der Fall als ungelöst vermerkt.“

 „Ist ihm oder dem Kollegen Klein nach dem 4. Januar eben nichts mehr eingefallen, was sie noch machen könnten.“

 „Na ja, es gab damals ja wohl auch einen Verdacht und den V-Mann zur Russenmafia kennen ja wohl nicht nur Sie.“

 „Frau Kollegin, V-Leute kennen nie allzu viele. Klein hat zwei andere V-Leute in der Russenmafia, die er betreut – ich kenn’ nur die Namen und die Gesichter, mehr nicht.“

 „Egal. Er hatte sie jedenfalls nicht kontaktiert.“

 „Wollen Sie das jetzt? Die werden Ihnen genau nichts sagen.“

 „Vielen Dank für die Information! Ich überlasse Ihnen den Kontakt zu ihrem V-Mann und werde mich nochmals in dieser Konditorei umhören. Mit Klein können wir im Moment nicht sprechen.“

 Kommissar Michael Klein lag nach einem schweren Skiunfall in Salzburg im Krankenhaus. Zwar war er nicht mehr im Koma, doch konnte er immer noch nicht nach Nürnberg transportiert werden, geschweige denn, dass mit ihm ein normales Gespräch möglich gewesen wäre.

 

 Birgit Peters erreichte die Witwe Blechschmidts zwar am Telefon, die bat aber darum, es kurz zu machen und zu kommen. Die Kommissarin fuhr nach Fürth, sprach dort mit Frau Blechschmidt, zwei Verkäuferinnen und einem Küchenhelfer. Weder die Chefin selbst noch ihre Angestellten konnten sich erinnern, dass der Besitzer vor seinem Tod den Eindruck gemacht hatte, unter Druck zu stehen.

 „Klar, Weihnachten ist immer was los, und letztes Jahr besonders, weil wir zum ersten Mal am Weihnachtsmarkt waren“, sagte eine Verkäuferin. „Klar war der Chef nervöser wie sonst, ist wegen Sachen gleich sauer geworden, die er normal durchgehen hat lassen, aber aufgefallen – nein.“

 Frau Blechschmidt bat die Kommissarin darum, die Gespräche in einem Hinterzimmer zu führen, damit die Kundschaft nichts mitbekomme. Auch sie wusste nichts davon, dass ihr Mann bedroht worden war. „Aber eins sag ich Ihnen: Den ham’s umgebracht“, schloss sie. „Und noch eins saach ich Ihnen: Ihr Kollech, der Herr Beringer oder so, der hat erschd hier jeden Winkel durchgeschaut und dann nach ein paar Tagen getan, wie wenn er sich an nix erinnern könnt’. Da war was ned sauber.“

 In diesem Moment steckte ein Junge mit hochtoupierten, braunen Haaren seinen Kopf durch das Fenster vom Hof her: „Bin dann fertig, Tante Iris!“

 Die Konditorin nahm ihren Geldbeutel und zog einen Schein heraus. „Dank dir!“ Sie wandte sich an die Kommissarin: „Mein Neffe Kevin – hilft mir ab und zu das Lager ausräumen.“

 Kommissarin Peters sah, wie der Junge in einem Prospekt blätterte. Sie erkannte, dass es sich um die Werbung einer Zweiradfirma handelte. So eine Maschine hatte – nein, sie wollte nicht daran denken!

 „Kann ich Ihnen auch ein paar Fragen stellen?“, rief sie durch das Fenster. „Kriminalpolizei.“

 Der Junge trottete zur Tür und kam herein. „Muss ja wohl“, antwortete er muffelig.

 Er nahm den Prospekt mit und setzte sich an den Tisch.

 „Sie interessieren sich für Motorräder?“, versuchte die Kommissarin einen Einstieg.

 „Sie können mich ruhig duzen. Ja, schon, im Moment hab ich noch nicht genug Geld, aber wenn ich nächstes Jahr nen guten Job krieg, will ich mir ne 80er zulegen. Hier die Yamaha hier vielleicht.“

 „Yamaha finde ich bei 80ern nicht so gut. Bei schweren Maschinen ja, aber bei leichten rate ich dir eher zu Hercules oder Honda.“

 „Kennen Sie sich aus mit Motorrädern?“, fragte Kevin interessiert.

 „Ja, ich fuhr selbst einige Jahre – aber man wird ja älter, vorsichtiger und bequemer.“ Sie bemühte sich, einen gleichmütigen Gesichtsausdruck zu wahren.

 

 Immerhin funktionierte der Einstieg. Der Junge kannte sich tatsächlich einigermaßen aus und wollte vielleicht sogar Zweiradmechaniker lernen.

 Nach einigen Minuten Geplauder kam die Kommissarin zu ihrem eigentlichen Anliegen: „Hast du hier auch schon mitgeholfen, als dein Onkel noch gelebt hat?“

 „Ja, freilich, warum? Da fällt immer Arbeit an – und der Onkel Arno hat ganz großzügig bezahlt; die Tante Iris macht das auch, obwohl sie manchmal jammert sie, hat kein Geld.“

 „Und was machst du hier?“

 „Alles halt, für das man keinen gelernten Konditor braucht was nicht unbedingt zu einer bestimmten Zeit passieren muss – so wie Lager ausräumen eben, leere Kartons in den Container, gelbe Säcke füllen, was halt so anfällt.“

 „Ist dir um Weihnachten letztes Jahr irgend etwas aufgefallen?“

 Der Junge überlegte. „Nein, eigentlich nicht“, sagte er schließlich. „Halt, doch. – Aber das hat meine Tante bestimmt Ihren Kollegen schon gesagt.“


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