Die Ehrenwerte Gesellschaft

„Was meinst du?“, fragte die Kommissarin.

„Als wir nach Weihnachten ausgeräumt haben, war da eine ganze Palette mit Zuckertüten. Die Tante Iris hat nichts davon gewusst – nur eine Verkäuferin hat sich erinnert, dass der Onkel Arno gesagt hat, dass die alle abgelaufen waren, wie sie sie geliefert haben.“

 „Hm, davon habe ich noch nichts gehört oder gelesen.“ Birgit Peters verfluchte sich für diese unvorsichtige Bemerkung. Diesen Jungen ging die Polizeiakte ebenso wenig an wie jemand anderen.

 „Meinen Sie, das hat was mit dem Mord zu tun? Dass sie ihn umgebracht haben, weil er ihnen kein Geld zahlen wollte? Wenn so was öfter passiert ist?“

 „Das kann ich mir nicht vorstellen. – Hör mal, noch wissen wir ja nicht, ob dein Onkel umgebracht wurde. Ich habe eine Vermutung, aber darüber möchte ich ungern sprechen.“

 

 Als sie ins Präsidium zurückkam, erfuhr sie von ihrem Vorgesetzten, dass dieser seinen V-Mann erreicht hatte. „Können Sie den genauer fragen, wie seine Kumpane bei Erpressungen vorgehen?“

 „Kann sein“, brummte Oberkommissar Kröber. „Alles weiß er auch nicht.“

 Kommissarin Peters berichtete von den Aussagen Kevins. Ihr Vorgesetzter hörte sich alles geduldig an, zeigte aber keine Regung und sagte nichts. Sie deutete das so, dass er sich ebenso unsicher war wie sie selbst: Dass ein Geschäft eine ganze Palette verdorbener Ware aufhob, statt sie zurückzuschicken, wunderte sie.

 Die Aktendurchsicht ergab, dass ihre Kollegen nichts notiert hatten. Sie schrieb aus dem Gedächtnis zusammen, was der Junge ihr erzählt hatte und notierte sich, dass sie ihn noch verständigen musste, da sie seine Unterschrift brauchte – glücklicherweise hatte sie sich seine Adresse und auch seine Handynummer geben lassen – ob er bei seiner Aussage blieb.

 Der zweite Tote des Vorjahres, ein Spielzeughändler, stammte aus der Gegend von Nördlingen, fiel also in den Bereich der Augsburger Kollegen. Eine Befragung der Witwe und eines Helfers sowie eine Durchsuchung des Standes hatten im Vorjahr nichts ergeben. Am 15. Januar war der Fall übergeben worden. Sie schrieb eine e-Mail an die Mordkommission im Polizeipräsidium Schwaben, in der sie um Weitergabe der Ermittlungsergebnisse am Wohnort des Toten bat.

 

 

 Gegen neun Uhr abends gingen zwei Männer über die Große Straße auf den Kleinen Dutzendteich zu. Hier, wo einst die SS marschiert war und nun im Frühjahr und Herbst das Volksfest Massen anzog, während der Fußballspiele Autos parkten und ansonsten vor allem Skater und Fahrschüler unterwegs waren, hielten sich um diese Jahreszeit wenige Leute auf. Ein Beobachter hätte am ehesten vermutet, dass die beiden Männer in einer der Kneipen zwischen dem Dutzendteich, dem Frankenstadion und der Bahnlinie einige Biere getrunken hatten und nun auf dem Heimweg in Richtung der Wohnsiedlung an der Oskar-von-Miller-Straße, vielleicht auch am Hasenbuck oder am Rangierbahnhof waren. Der Ältere sprach fränkischen Dialekt, der Jüngere stammte hörbar aus Osteuropa.

 „Du hast also nichts mit dem Weihnachtsgeschäft zu tun?“, fragte der ältere Mann.

 Der andere schüttelte den Kopf: „Leider nein. Nur die normalen Sachen. Aber man kann ganz gut davon leben.“

 „Schade. – Wie geht es eigentlich Mischa? Hat er wenigstens was davon?“

 „Weiß nicht. Hab Mischa schon lang nicht mehr gesehen.“

 Der ältere Mann verzog das Gesicht. Er zündete sich eine Zigarette an und ging schweigend neben seinem Gesprächspartner her.

 „Der Mann auf dem Foto ist also nicht Mischa?!“, stellte er schließlich eher fest als er fragte.

 „Nein. Aber ich kenn’ ihn nicht.“ Dem Osteuropäer fiel etwas ein: „Übrigens, wenn wir bei Fotos sind: Das ist der Schachspieler, von dem ich erzählt hab.“ Er zog sein Handy heraus und drückte unauffällig eine bestimmte Taste.

 „Danke. Auch jemand von denen, die auf Weihnachten nach Nürnberg kommen?“

 „Weiß ich nicht. Muss erst mit meiner Frau reden.“

 „Mist, mistiger!“ Der ältere Mann, Kommissar Kröber, sah sich um, erschrocken über sich selbst und atmete leise auf, als er feststellte, dass niemand zugehört hatte. Zwar war es vorteilhaft, dass Vadim, der jüngere Mann, einen Mann der mittleren Ebene identifiziert hatte – „guter Schachspieler“ war das Tarnwort für mittlere und höhere Chargen, wobei die höchsten irgendwo in Russland auf ihren Datschen saßen und die Polizei ihrer Umgebung unter Kontrolle hatten – doch im vorliegenden Fall hatte der V-Mann nicht helfen können; im Gegenteil: Er hatte keinen Kontakt mehr zu Mischa – dem Codewort für die Bandenmitglieder im Allgemeinen – und er tat nur ‚die normalen Sachen’, das hieß, im Auftrag von Gläubigern, die ihr Geld schneller wieder haben wollten als der Rechtsweg funktionierte, deren Schuldner zu bedrohen. Das bedeutete, dass zu befürchten stand, dass Vadim von seinen Komplizen als V-Mann verdächtigt wurde.

 

 Während Oberkommissar Kröber seiner Wohnung im Nibelungenviertel entgegenging, fand folgender Chat statt:

Yeah-shim:       eine ganze palette? o O

die-diagnose:    ja, wieso?

Yeah-shim:       Hätte papa sofort zurück geschickt. Ein zwei vergammelte passiert schon mal aber nicht alles

die-diagnose:    meinst, die hätten das wieder genommen?

Yeah-shim:       hundertpro. Sonst verlieren die ja ihre kunden, wenn die sich ärgern

Yeah-shim:       und nur wenn dus gleich zurückschickst kriegst du geld wieder – du musst denen ja gleich beweisen dass das
                         zeug abgelaufen war oder schlecht

die-diagnose:    warum glaubst du hat mein onkel das aufgehoben?

Yeah-shim:       ka – vll haben sie ihn da schon erpresst

die-diagnose:    wie meinst du das?

Yeah-shim:       hab mal was gelesen: die sagen dann, wenn ihr nicht zahlt kriegt ihr vergiftete sachen – und viele zahlen

die-diagnose:    dann war das schon ne aktion von der mafia?

Yeah-shim:       kann sein

Yeah-shim:       mein bruder nervt hinter mir – will ran an die kiste

Yeah-shim:       müssen langsam schluss machen

die-diagnose:    ciao, schlaf gut, träum schön xxx

Yeah-shim:       klar, am liebsten von dir – viiieele xxxs!!!

die-diagnose:    ich hoff ich kann von dir träumen <3

Yeah-shim:       ich meld mich nochmal – schlimmstenfalls vom handy

Yeah-shim:       ciao bis später!

die-diagnose:    ich hab dich lieb! <3

Yeah-shim:       ich dich auch *knutscher* <3

Yeah-shim ist offline

 

 Einige Zeit saß Kevin ungeduldig vor seinem Notebook und hoffte, dass Yeşim ihr Versprechen halten und sich nochmals rühren würde. Danach fiel ihm etwas ein: Sein Notebook hatte einst seinem Onkel gehört; nachdem seine Tante die für sie wichtigen Daten gesichert hatte, hatte sie es seiner Mutter verkauft und die hatte es Kevin zum Geburtstag geschenkt.

 Nicht alle Daten seines Onkels waren gelöscht und manche Dateien ließen sich vielleicht auch wiederherstellen – Kevin selbst hatte es zwar nur einige Male gemacht, aber sein Freund Max war ein echter Freak, der so etwas sicher beherrschte.

 Es gelang Kevin an diesem Abend nicht mehr, zu erkennen, ob es sich lohnte, eine Datei wiederherzustellen, aber er fand zwei Bilder in einem Ordner, die mit Sicherheit nicht er eingestellt hatte. Das eine zeigte seine neunjährige Cousine Janine, ein ziemlich verträumtes,  Mädchen, das andere ein ihm, Kevin, unbekanntes Mädchen etwa im gleichen Alter, das fast nackt auf einer Couch lag. Er erschrak: Sollte sein Onkel mit Kinderpornos zu tun gehabt haben?

 Den Gedanken verwarf er allerdings wieder: Wäre es so gewesen, wäre es unwahrscheinlich, dass ausgerechnet ein einziges Bild übrig geblieben wäre. Vermutlich hätte er dann alle entsprechenden Bilder in einen Ordner gespeichert, den er entweder zu Lebzeiten komplett gelöscht oder den Tante Iris gefunden hätte. Dennoch erzählte er zunächst niemandem, nicht einmal Yeşim, von seinem Fund.

 

 Von Max ließ er sich am nächsten Tag ausführlich erklären, wie man Programme wiederherstellte. Er nahm auch sein Notebook mit zu Max und sie probierten es dort gemeinsam; lediglich die Fotos versteckte Kevin und Max war fair genug, die versteckten Dateien nicht anzeigen zu lassen.

 Die meisten Dateien, die zum Großteil wiederhergestellt werden konnten, waren gewöhnliche Geschäftsmails und Anlagen, die Kevin weniger interessierten. Ein Einspruch gegen einen Steuerbescheid, mehrere Bestellungen, einige Werbeanzeigen, eine Adressensammlung mit dem ihm unbekannten Titel ‚ADHS-Syndrom’ – Kevin sah beim flüchtigen Darüberlesen etwas von ‚Mädchen oft verträumt’ und erinnerte sich, dass Tante Iris ab und zu geklagt hatte, Janine lebe in einer anderen Welt. Auch er selbst fand sie zurückgeblieben. In welchem Zusammenhang die beiden Fotos gestanden waren und ob sie überhaupt etwas miteinander zu tun hatten, brachte Kevin nicht in Erfahrung.

 

 

 Auch die Polizei kam in den nächsten Tagen nicht weiter. Die Antwort der Augsburger Kollegen erbrachte, dass der ermordete Händler, ein gewisser Walter Meitinger, zwar Drohbriefe bekommen hatte, dies war allerdings nach Wissen der Witwe lange vor der Adventszeit 2010 der Fall gewesen.

 Kommissarin Peters ertrug es nicht, auf der Stelle zu treten und schlug vor, sich bei allen Budenbesitzern umzuhören. Bei ihrem Vorgesetzten stieß die Idee auf wenig Gegenliebe: „Die haben momentan bestimmt wenig Zeit und Lust, sich mit uns zu unterhalten. Wer was anzeigen wollen hätt’, der hätt’ das schon gemacht“, meinte Oberkommissar Kröber. „Wenn sich einer nicht traut, können wir ihn nicht zwingen – und wir können auch nicht alle Stände einzeln überwachen. Was meinen Sie, wie viel Stände es gibt und wie viel Leute jeden Tag da unterwegs sind?“

 „Das weiß ich. Ich bin nicht mehr ganz neu in Nürnberg“ , antwortete die Kommissarin mehr resigniert.

 Einige Zeit später jedoch hatte sie eine Idee: Sie fragte ihren Vorgesetzten, was aus Hauptkommissar Beringer geworden war, der damals nicht nur den Fall Blechschmidt geleitet hatte, sondern auch der Mordkommission Mittelfranken insgesamt vorgestanden war.

 „Das wissen Sie nicht?“, fragte Hans Kröber überrascht. „Den haben wir praktisch gegen Sie getauscht. Der ist jetzt in Regensburg.“

 Nun war es an ihr, überrascht zu sein: „In Regensburg? Der Chef der Mordkommission dort heißt Tuschl und ist noch nicht so alt, dass er schon pensioniert worden sein könnte.“

 „Ich hab nicht gesagt, dass er bei der Mordkommission ist. Er ist beim Betrug.“

 „Beim Betrug? Aber warum schicken sie einen Mordspezialisten zum Betrug?“

 „Frau Peters, wie lange sind Sie schon bayrische Beamtin und glauben immer noch, dass Entscheidungen von denen in München einen Sinn haben?“

 

 Immerhin bestand Hoffnung: Falls Beringer ihr selbst keine Auskunft geben können oder wollen sollte, kannte sie auch Wolfgang Hölzl aus der oberpfälzischen Betrugskommission recht gut. Wie sie selbst einstmals war er leidenschaftlicher Motorradfahrer – nein, daran wollte sie nicht mehr denken!

 Ihre Anrufe in Regensburg verliefen, wie sie gedacht hatte. Beringer gab nur lapidar Auskunft, die Ermittlungen seien aus Mangel an Indizien eingestellt worden. Von der weggeworfenen Palette Zucker wusste er nichts.

 Wolfgang Hölzl und Birgit Peters’ früherer Kollege in der Regensburger Mordkommission, Nico Wendler, versprachen ihr, sich unauffällig mit Beringer in Verbindung zu setzen. Bei der Weihnachtsfeier in Regensburg gab es traditionell genügend alkoholische Getränke, dass dem einen oder anderen Kollegen die Zunge lose wurde.

 

 Hans Kröber suchte währenddessen die Daten der beiden seinem Kollegen Klein unterstehenden V-Leute heraus. Einer davon namens Mitja war, wie er wusste, unter anderem auch dafür eingesetzt, Vadim zu kontrollieren und umgekehrt, was beide keinesfalls wissen durften.

 Jenen Mitja erreichte er schnell am Telefon und erhielt auch bald eine e-Mail von einem anonymisierten Server aus, worin Mitja schrieb, dass der Arm der Russenmafia, dem er angehörte, tatsächlich im Vorjahr am Fürther Weihnachtsmarkt aktiv gewesen war – allerdings nicht, um Schutzgeld zu erpressen, sondern um Protest gegen die Vergabepraxis zu unterbinden. Von einem Mord an einem der Geschäftsleute wusste er ebenso wenig wie davon, wer in Nürnberg ähnliche Dinge tat. Er konnte nur versprechen, sich unter Freunden umzuhören. Boris, den anderen V-Mann, erreichte Kröber an diesem Tag nicht. Er konnte höchstens noch im Wirtschafts- und Betrugsdezernat nachfragen, da die Kollegen dort sicher auch V-Leute und verdeckte Ermittler in die Russenmafia einschleusten. Da die Banden aber inzwischen in weitgehend unabhängig voneinander operierende Kleingruppen aufgeteilt waren, würde es auf jeden Fall schwierig sein, etwas herauszubekommen.

 

 

 Der Samstag brachte für Yeşim eine freudige Überraschung: Kevins Mutter und Stiefvater waren zu einer Geburtstagsfeier in der Verwandtschaft des letzteren gefahren und würden erst spät abends nach Hause kommen, seine Stiefschwester Sandra wollte dies ausnützen, um den Tag bei ihrem aktuellen Freund zu verbringen, bei dem sie vielleicht auch übernachten würde. So hatte er sturmfreie Bude und war nur zu bereit, dies auch auszunützen.

 Yeşim fuhr mit dem Fahrrad hin, da der Weg mit öffentlichen Verkehrsmitteln ziemlich umständlich gewesen wäre – zweimal umsteigen und einmal davon lange warten.

 Sie gingen am späten Vormittag gemeinsam einkaufen, den Nachmittag verbrachten sie bei Kevin zu Hause, hörten Musik, spielten Computerspiele, lösten mehrere Black Stories, zwei gemeinsam im Internet und je eine, die sie sich gegenseitig stellten, unterhielten sich und genossen ganz allgemein ihre Zweisamkeit.

 Später zeigte Kevin Yeşim auch die beidem Bilder.

 „Die eine sieht echt aus, wie wenn sie wer auf’n Strich geschickt hätt’“, kommentierte sie. „Traust du deinem Onkel so was zu?“

 Kevin zuckte mit den Schultern: „Eigentlich nicht. Soviel ich mitbekommen hab, waren die Tante Iris und der Onkel Arno glücklich miteinander – aber du weißt ja: Verbrechern sieht man’s nie an“, gab er eine Krimiweisheit zum Besten.

 „Warum gehst du nicht zur Polizei? Ich mein, selbst wenn, deinem Onkel kann ja nichts mehr passieren“, schlug Yeşim vor.

 „Ich weiß nicht – ich stell mir vor, was los wär’, wenn er echt...Aber ich kann’s einfach nicht glauben. Ein einziges Foto – das gibt keinen Sinn.“

 „Glaub ich auch nicht.“

 

 Am Nachmittag stellte Kevin fest, dass keine Limonade mehr da war. Er bot Yeşim an, sie könne in der Wohnung bleiben, doch die meinte, sie wolle auch „ein bisschen Luft schnappen“.

 Kaum waren sie aus dem Haus gegangen, fiel ihr ein Mann mit dunkelblondem Haar auf, der scheinbar lässig in einer Einfahrt stand. „Kennst du den?“, fragte sie.

 „Nö.“ Kevin überlegte: „Aber du hast Recht, der war gestern auch schon ewig hier herum gestanden.“

 „Heute früh, wie ich gekommen bin, nämlich auch. Später, wie wir dann aus der Stadt zurückgekommen sind, nicht mehr.“

 

 Als sie vom Supermarkt zurück zur Wohnung gingen, Kevin mit einem vollen Getränkekasten, Yeşim mit mehreren Tüten Keksen und Gummibärchen in den Händen, sahen sie denselben Mann in einem Stehcafé am Straßenrand.

 

 Gegen sieben Uhr verabschiedete Yeşim sich von Kevin: Sie hatte ihren Eltern nichts gesagt, dass sie nicht zu Hause essen und / oder abends weggehen wollte und hielt es für besser, erst heimzugehen und beim Abendessen die Lage zu sondieren.

 Immer noch stand der Mann in der Nähe der Wohnung von Kevins Eltern. Dem Mädchen wurde langsam mulmig und sie beschloss, ihn zu testen: Sie ging erst zu ihrem Rad, er folgte ihr ein Stück bis er die nächste Straßenecke sah, doch kurz vor dem Laternenpfahl, an den sie ihr Rad geschlossen hatte, drehte sie abrupt um als ob sie vergessen hätte, etwas einzukaufen. Sie ging gemächlich in eine Seitenstraße, schaute auf die Prospekte des Reisebüros und durch die Scheiben des zu dieser Jahreszeit wegen des Rauchverbots in Kneipen spärlich besuchten Shisha-Café. Zwischendurch drehte sie sich möglichst unauffällig um und sah, dass der Mann hinter ihr her ging. Sie bog in die nächste, weit belebtere Straße ein und stellte fest, dass sie hier schon oft gewesen war, als sie Kevin noch nicht gekannt hatte: Hier befand sich eben jener Bazar, in dem es den ihrer Meinung nach schönsten Modeschmuck Nürnbergs gab und in dem sie die Ohrringe und einen der Armreifen, die sie derzeit trug, gekauft hatte. Nach einem kurzen Blick ins Schaufenster, wo diesmal eine Kette ihr Interesse weckte, versuchte sie die Tür und stellte fest, dass das Geschäft bereits geschlossen war. Als sie sich umdrehte, um zurückzugehen, sah sie, dass der Fremde telefonierte. Sie verstand zwar seine Sprache nicht, meinte aber, zweimal das Wort ‚Kevin’ zu hören.

 Ohne richtig zu wissen, warum sie es tat, zog sie ihr eigenes Handy aus der Tasche und begann, den Fremden zu filmen.

 

 „Hey, hör auf damit!“, befahl der Mann schroff.

 Sie tat, als ob sie ihn nicht hörte.

 Er steckte sein Handy ein und wandte sich ihr unmissverständlich zu. „Hör auf mich zu filmen! Lösch das Video, aber sofort!“

 „Warum?“, fragte sie zurück. „Das ist mein Handy.“

 „Du kannst nicht einfach fremde Leute filmen!“

 „Warum nicht?“

 „DARUM!“

 Der Mann kam näher und ballte die Fäuste. Sie steckte ihr Handy ein und wollte weitergehen, als er nach ihrem Ärmel griff: „Lösch das Video, hab ich gesagt!“

 Sie riss sich los. Er griff ein zweites Mal in ihre Richtung, doch sie wich aus. Nun schlug er zu, doch auch der Schlag ging ins Leere. Yeşim war sehr wendig, vor allem viel mehr als man es ihr bei ihrer etwas molligen Figur zugetraut hätte. Sie schlug ihrerseits zu und traf auch, doch der Mann schien den Schlag überhaupt nicht zu spüren.

 Sie stellte sich ihm gegenüber, ihr Gewicht von einem Bein aufs andere verlagernd, um im richtigen Moment ausweichen zu können. Wegrennen erschien ihr die falsche Alternative: Eine sonderlich gute Sprinterin war sie nicht und außerdem konnte sie schlecht sehen, ob der Mann von hinten etwas auf sie warf. Dagegen traute sie sich durchaus zu, den Mann mit den Stahlkappen ihrer Stiefel ernsthaft zu verletzen, vor allem, wenn sie ihn an der richtigen Stelle traf.

 Er versuchte, sie zu packen, sie wich aus und trat zu, doch der Mann hatte mitgedacht und blockte mit seinem linken Arm Yeşims Bein, bevor sie es überhaupt voll durchgestreckt hatte.

 Er schlug erneut zu und traf sie leicht am Oberarm, was ihr durch ihre Winterjacke hindurch kaum wehtat. Nun bekam sie ihn bei den Hüften zu fassen und versuchte einen Wurf, doch die Tatsache, dass sie seit dreieinhalb Jahren kein Judo mehr betrieb, machte sich bemerkbar: Der Wurf gelang ihr nicht mehr so sauber, wie er hätte müssen, um Erfolg zu haben; ihr Gegner konnte sich befreien, sie an den Armen packen und durch seine große Kraft einen Moment von den Füßen reißen.

 Sie kam zwar wieder zum Stehen, doch der Mann hielt sie nun von hinten im Polizeigriff: „Es geht mir eigentlich gegen den Strich, gegen Mädchen zu kämpfen. Also sei brav und gib mir dein Handy oder lösch das Video! So ist es für uns beide besser.“

 

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