Ein Toter, den niemand kennt

 Das Handy des Oberkommissars klingelte. Jemand von der Schutzpolizei – Kröber merkte sich deren Namen prinzipiell nicht – informierte ihn, dass sie auf dem Christkindlesmarkt einen Toten gefunden hatten.

 „Zusammengebrochen oder was?“, fragte er knapp.

 „Können wir im Moment noch nicht sehen. Kann gut sein, dass er im Gedränge noch mitgeschleift wurde.“

 „Sonst noch Wichtiges?“

 „Männlich, vielleicht 30 Jahre alt, um eins achtzig groß, blond. Hatte keine Papiere bei sich, auch kein Handy.“

 „Wer hat ihn gefunden?“

 „Ein Mädchen. Sie steht unter Schock. – Wir sind bei einem Stand für erzgebirgische Volkskunst im Sternlasweg, der Zugang ist genau gegenüber der Buchhandlung; Besitzer des Standes ist eine Familie Ostermann. Daneben ist links ein Stand für Süßigkeiten, rechts einer für Spielzeug. Ziemlich genau in der Mitte des Marktes.“

 „In Ordnung, ich komme!“ Eine Anweisung, die Stelle abzusichern, dürfte zwecklos sein. Sicher waren bereits Tausende von Füßen darüber getreten, lagen ebenfalls zertretene Reste von Lebkuchen, Zuckerwatte und gebrannten Mandeln darüber und hinuntergeronnener Glühwein und Kinderpunsch hatte das Ganze zu einer undurchdringbaren Masse gemacht.

 

 Oberkommissar Kröber hielt wenig von Christkindlesmarkt – seiner Meinung nach war dieser eine Touristenfalle, die nur den Zweck hatte, dafür zu sorgen, dass die gesamte Altstadt über vier Wochen voller Touristen und Dreck war. Christkindles- oder Weihnachtsmärkte, die diese Bezeichnung verdienten, gab es seiner Meinung nach nur noch in kleineren Orten – angeblich sollte der in Fürth sehr schön sein, doch Kröber würde dennoch niemals freiwillig einen Fuß in die „Westvorstadt“ setzen.

 Er zog es vor, zu Fuß zu gehen. Mit dem Auto brauchte man, selbst mit Blaulicht, ewig durch die vollgestopften Straßen, während zu Fuß jemand, der sich auskannte und die Fußgängerzone und die Hauptstraßen mied, sehr schnell vorankam.

 

 Er fand den Zugang zum Sternlasweg, wie eine der Gassen in der Budenstadt hieß, schnell und kämpfte sich durch das Gedränge, wobei er rücksichtslos von seinen Ellenbogen Gebrauch machte. Vor dem Stand der Familie Ostermann drängten Schutzpolizisten Schaulustige zurück. Er zeigte einem seinen Dienstausweis und trat vor den Stand. Der Tote lag im Inneren des Standes, die Besitzer, ein älteres Ehepaar, standen daneben.

 „Grüß Gott, Kröber, Kriminalpolizei. Haben Sie den Toten gefunden?“

 „Nee – das woar `n Mädchen, das Ihre Gollechen weggebracht hoben“, antwortete der Mann in fürchterlichem Sächsisch. „Sie hat laut jeschrien ‚Ein Doder!’, meine Frau hat hingeguckt und dann Sie ongerufen. Inzwischen is die Gleene zusammengesoggt. Ihre Gollechen hoben den Mann hier rinjeschlebbd und do liechd er nu.“

 Auch die Frau des Standbesitzers wusste nicht mehr.

 „Keine Informationen, wer der Tote ist – keine Papiere, kein Handy, kein Nichts“, informierte einer der Schutzpolizisten. „Die Zeugin haben die Kollegen ins Revier Mitte gebracht, weil das näher ist als sie gleich ins Krankenhaus zu bringen. Wenn sie dort nicht zu sich kommt, muss sie ins Krankenhaus. – Sie heißt Sonja Lampert, geboren am 13. April 1998, geht auf die Peter-Vischer-Realschule – das steht in ihrem Schülerausweis, den sie zum Glück dabei hatte. Aus ihr selbst war nichts rauszukriegen, ist zusammengeklappt, bevor wir hergekommen sind. Ansonsten keine Spuren zu sehen – nirgends eine Kugel oder sonstige Waffen.“

 

 „Das dauernde Geknipse regt mich auf!“, bellte Kröber und zeigte mit dem Finger auf eine Gruppe japanischer Touristen, die unaufhörlich den Stand, die Polizisten und den Absperrzaun fotografierten. Andere redeten mit den Polizisten, doch die gaben wenig Antworten.

 „Sonst hat niemand was gesehen?“, fragte Kröber einen der Schutzpolizisten.

 „Angeblich nicht – oder es will niemand was sehen.“

 „Was mich wundert: Woher weiß eine Dreizehnjährige, dass jemand, der auf dem Boden liegt, tot ist – und warum sieht ihn sonst niemand liegen?“

 „Keine Ahnung, wer alles hier vorbeigekommen ist. Die Leute, die wir hier vorgefunden haben, als wir uns endlich durchgekämpft haben, können ja ganz andere sein als die, die wirklich was gesehen haben – das Gedränge geht ja ständig weiter.“

 „Ach nein, da wär’ ich nie draufgekommen“, knurrte Kröber.

 

 Er sah sich den Toten genauer an, doch der blutete weder, noch waren irgendwelche Kampfspuren oder sonst etwas Auffälliges an ihm zu sehen.

 „Bringen Sie ihn ins Präsidium zur Untersuchung!“, befahl er. „Die Personalien...“

 „...von Herrn und Frau Ostermann haben wir schon aufgenommen, Herr Oberkommissar“, meldete eine Schutzpolizistin. „Werden Ihnen zugemailt.“

 

 Der Oberkommissar verließ den Stand in Richtung Polizeiwache. Vom Podium, das wie jedes Jahr vor der Frauenkirche aufgebaut war, erklang Blasmusik. Das Gedränge war unverändert dicht. Es roch gleichzeitig nach Bratwürsten, Lebkuchen, Glühwein, Schweiß und Zigarettenqualm.

 ‚Kein Wunder, dass hier jemandem schlecht wird und er umkippt’, dachte der Oberkommissar sich. Er drängte sich bis zur Nordseite des Hauptmarkts durch und ging von dort durch den Rathaushof, wo es trotz der Stände der Partnerstädte, die sich dort befanden, erheblich ruhiger zuging als auf dem Markt selbst, zur Polizeiwache.

 

 Er zeigte dem wachhabenden Beamten seinen Dienstausweis, verlangte, in das Zimmer gebracht zu werden, in dem sich Sonja Lampert befand und ignorierte dabei das schwarzhaarige Mädchen, das neben ihm am Tresen stand.

 Im Verhörzimmer saß ein Mädchen mit blonden Locken, hellgrauem, weit ausgeschnittenem Pullover und etwas zu stark geschminktem Gesicht am Tisch. Neben ihr stand eine junge Beamtin.

 „Oberkommissar Kröber, Kriminalpolizei“, stellte er sich vor. „Bist du Sonja Lampert?“

 Das Mädchen nickte und nippte an der Cola, die vor ihr stand.

 „Sie ist zum Glück wieder zu sich gekommen“, informierte die Polizistin überflüssigerweise. „Leider haben wir ihre Eltern bisher nicht erreicht. Ich bin nicht sicher, ob sie verhörfähig ist.“

 „Wird schon.“ Kröber setzte sich dem Mädchen gegenüber. „Was genau hast du gesehen?“

 „Ich war mit Ye – mit meiner besten Freundin – auf dem Christkindlesmarkt unterwegs. Dort, bei diesem Stand mit den Sachen aus dem Erzgebirge, hab ich mich angestellt; ich wollte ein Geschenk für meine Oma kaufen, die steht voll auf das Zeug. Dann haut mir plötzlich jemand mit voller Wucht auf die Schultern. Ich dreh mich um und will den anmotzen, da seh ich, da liegt einer am Boden.“

 „Herr Ostermann, der Besitzer des Stands, hat ausgesagt, du hättest gesagt, dass er tot ist. Woher wusstest du das? Er hätte ja auch nur zusammengebrochen sein können.“

 „Ich bitte Sie, Herr Oberkommissar!“, warf die Polizistin ein, die wohl Kröbers Ton unangemessen fand. „Sie können nicht von einem Kind erwarten, dass es an alles denkt.“

 Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Ich bin bei der Wasserwacht und hab auch schon einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht. Ich hab also alles versucht, also Ansprechen, Atem testen, Puls fühlen und so. Nichts! Dann hab ich versucht, den Mann zu beatmen, aber dann gemerkt, er wird immer kälter. Von den ganzen Leuten ringsum hat auch keiner geholfen. Dann hab ich laut geschrieen ‚Ein Toter!’ und erst danach hat die Frau vom Stand was gemerkt.“

 „Und dann bist du ohnmächtig geworden?“

 „Ja, glaub. Das nächste, an was ich mich erinner’, ist, dass ich hier gelegen bin und ihre Kollegin mich angeredet hat.“

 „Du sagst, du warst mit deiner Freundin unterwegs. Wo war sie?“

 „Keine Ahnung. Sie war plötzlich weg. Vorhin hat mein Handy geklingelt, das war sie.“

 

 Es klopfte an der Tür. Ein Polizist steckte seinen Kopf durch: „Eine Yeşim Cokbudak sagt, Sonja Lampert ist ihre beste Freundin und sie will zu ihr.“

 „Yeşim?“ Sonjas Augen leuchteten. „Ja, das ist sie!“

 Der Polizist öffnete die Tür und das schwarzhaarige Mädchen, das Kröber vorhin gesehen hatte, kam herein. Sonja stand auf und die beiden fielen sich in die Arme.

 „Wo warst du? Plötzlich hab ich dich nicht mehr gesehen. Bestimmt fünfmal hab ich dich angerufen?“, fragte Yeşim. „Und dann kommt plötzlich die Antwort von der Polizei. – Was war denn los?“

 Sonja erzählte, was sie erlebt hatte und machte Yeşim Vorwürfe, dass sie nicht gewartet hatte. „Ich hab dir doch gesagt, ich möcht' was für meine Oma suchen.“

 „Hab ich nicht gehört. Hab mich kurz darauf gewundert, wo du bleibst. Warum hast du mir keine SMS geschickt? Ich hätt dir doch helfen können!“

 „Hast du schon mal in echt jemand zusammenklappen sehen? Im Kurs üben und in echt machen ist total was anderes, sag ich dir!“

 „Du hast also nichts gesehen?“, wandte der Oberkommissar sich an Yeşim. Die schüttelte den Kopf.

 „Gut, das Übliche“, entschied Kröber. „Personalien aufnehmen, auch von den Eltern und Eltern verständigen. – Sonja, es kann sein, dass du bald Post von uns bekommst und dich auf dem Präsidium melden musst.“

 „Wieso?“, fragte Yeşim an Sonjas Stelle. „Ist der Mann umgebracht worden?“

 „Das wissen wir noch nicht.“ Er zog sein Fotohandy aus der Tasche und zeigte Yeşim das Bild des Toten. „Dir ist dieser Mann nicht zufällig vorher aufgefallen?“

 Das Mädchen schüttelte wieder den Kopf. Auch Sonja beteuerte, ihn nicht zu kennen.

 „Gut, danke! – Wenn ihr nichts mehr hört, war es ein Unfall.“

 Grußlos ging er aus dem Raum und entschied, sich von einem Schutzpolizisten per Auto ins Präsidium bringen zu lassen.

 

 Der erste Arztbericht war schon fertig. Herausgefunden hatte der Mediziner wenig Verwertbares. Kröber rief ihn an, da er nicht alles verstand, doch auch die mündliche Antwort war ernüchternd: „Herr Oberkommissar, ich kann Ihnen nur sagen, was nicht war: Keine Alkoholvergiftung – der Alkoholwert ist der, den man nach ein oder zwei Bier zum Essen oder einer Tasse Glühwein mit Schuss hat – keine sichtbaren Verletzungen, kein Hinweis auf Drogen. Todesursache Herzstillstand. Es ist zwar ungewöhnlich, dass bei einem jungen Menschen so plötzlich das Herz aussetzt, aber nicht ausgeschlossen. Er könnte ja vorher herzkrank gewesen sein.“

 „Können Sie das nicht feststellen?“

 „Schrittmacher hat er keinen; ansonsten kann ich nicht viel feststellen, solange ich keine Ahnung habe, wer er ist.“

 „Fremdeinwirkung also ausgeschlossen?“

 „Nein. Es gibt Gifte, die aufs Herz gehen und sich sehr schwer nachweisen lassen.“

 „Mist!“

 

 Der Oberkommissar hatte gerade aufgelegt und war aufgestanden, um an einem stillen Ort seine verbotene Zigarette zu rauchen, als seine Kollegin Birgit Peters hereinkam.

 „Grüß Gott, Herr Kröber! Na, Ärger?“

 „Ärger ist übertrieben. Eine Leiche, aber es steht nicht fest, wie der Kerl gestorben ist und niemand weiß, wer er war. Zeugen: Ein Kind und einer unserer Mitbürger aus den Neuen Bundesländern.  Tatort: Christkindlesmarkt. – Der ganz normale Wahnsinn!“

 „Ein Foto des Toten gibt es aber?“

 „Ja, hier.“

 „Was halten Sie davon, das Foto in den Computer einzuscannen und mit Vermisstenanzeigen zu vergleichen, sofern in den nächsten Tagen keine kommt? Und nachzuschauen, ob es ähnliche Fälle gab.“

 „Ist gut, Gscheiderla!“ Besserwisserische und aus Preußen stammende Kolleginnen waren dem Oberkommissar verhasst, so wie Preußen im Allgemeinen, Fürther, das Gedränge in der Altstadt während der Adventszeit, das Rauchverbot am Arbeitsplatz, Mädchen, die sich kleideten als ob sie auf den Strich gingen, Eltern, die das zuließen, die letzten unglücklichen Niederlagen des 1.FC Nürnberg, der Polizeipräsident und noch viele andere Unannehmlichkeiten des Alltags.

 

 Er ging hinaus und ließ sich viel Zeit für seine Zigarette. Als er wieder zurückkam, hatte seine Kollegin offenbar schon etwas gefunden und ihr war anzusehen, wie sehr sie darauf drängte, ihr Wissen mitzuteilen. Kröber tat, als ob er nichts bemerkte, schaltete seinen Computer an und sah sich die Aktenlage in zwei weiteren offenen Fällen an.

 „Wissen Sie, was ich herausgefunden habe?“, wagte Kommissarin Peters einen Vorstoß.

 „Nein, aber Sie werden es mir sicher gleich sagen.“

 „Es gab im letzten Jahr zwei vergleichbare Fälle zur Weihnachtsmarktszeit, einen hier, einen in Fürth. Damals traf es Budenbesitzer. Auch Herzstillstand, Einwirkung von außen nicht ausgeschlossen; keiner der beiden war vorher herzkrank.“

 „Wollen Sie sagen, dass es einen Zusammenhang gibt? Die Christkindlesmarkt-Bande oder was?“

 „Ich will bloß sagen, was ich herausgefunden habe.“

 „Dann werde ich gleich einmal herausfinden, wie viele plötzliche Todesfälle dass es in Nürnberg in dem Jahr gegeben hat. – Das sagt gar nichts aus. Bevor wir nicht mindestens wissen, wer die Leiche ist, brauchen wir gar nicht erst anfangen, was zu suchen.“

 „Natürlich ist das nur eine Vermutung, aber ich bin Polizistin, keine Richterin. Da arbeitet man mit Vermutungen.“

 „Jawohl, Frau Polizeischulmeisterin!“

 „Oder fangen Sie erst an, zu ermitteln, wenn schon alles sicher ist? Dann gibt es für uns nichts mehr zu tun.“

 „Ist gut. Machen Sie weiter und lassen Sie mich in Ruhe!“

 

 

 Während Oberkommissar Kröber und Kommissarin Peters getrennt voneinander die Dateien nach dem Foto des Toten durchsuchten, verabschiedeten sich Sonja Lampert und Yeşim Cokbudak voneinander. Wie zu erwarten war Sonjas Mutter, eine erfolgreiche Maklerin, nicht zu erreichen gewesen und schließlich hatten die Polizisten es trotz Bedenken erlaubt, dass die Mädchen allein heimgingen.

 „Kommst du noch mit rauf?“, fragte Sonja.

Yeşim schüttelte den Kopf. „Muss noch einkaufen und Essen vorbereiten. Meine Eltern sind ja bis acht im Laden und der Hakan hat heute Training. – Ciao, wir können später chatten!“

 Sie küsste die Freundin nochmals auf die Wangen und sah ihr nach, bis Sonja im Haus verschwunden war.

 

 Yeşim hatte zwar tatsächlich einkaufen müssen, dies aber schon erledigt, bevor sie sich mit Sonja getroffen hatte. Sie lud zu Hause lediglich schnell ihre Sachen ab, besah sich im Spiegel, zupfte etwas an ihren Haaren, zog ihre Lippen nach und verließ die Wohnung sofort wieder. Ihren Eltern hatte sie erzählt, dass sie bei Sonja essen würde, was denen ganz recht war.

 Was sie wirklich vorhatte, brauchten weder Sonja noch ihre Eltern noch ihr Bruder Hakan, der tatsächlich Judotraining hatte, zu wissen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: Sie traf sich noch mit Kevin, einem Jungen, den sie am Wochenende auf einer Party im Stadtteilzentrum kennen gelernt hatte – und mit dem sie telefoniert hatte, als sie mit Sonja auf dem Christkindlesmarkt unterwegs gewesen war, weshalb sie auch Sonja überhört hatte.

 Zwar waren ihre Eltern relativ tolerant, wenn sie ihre Familie mit denen türkischer Freundinnen verglich; ob sie es allerdings dulden würden, dass Yeşim mit ihren knapp vierzehn Jahren mit einem zwei Jahre älteren Jungen ging, bezweifelte sie. Sonja ahnte wohl etwas, war aber neidisch, da eigentlich sie es gewesen war, die auf der Party einen Jungen, Niklas, aus der neunten Klasse ihrer Schule erobern wollte; den hatte ihr allerdings ein beiden unbekanntes Mädchen weggeschnappt. Während Sonja sich darüber gegrämt hatte, war Yeşim mit Kevin, einem Freund von Niklas, ins Gespräch gekommen. Beide teilten eine Vorliebe für Krimis und Black Stories und hatten teilweise auch den gleichen Musikgeschmack. Auf der Party hatten sie Blues getanzt und sich auch einmal geküsst, wenn auch mehr aus Spaß.

 Dass Kevin allerdings tatsächlich Yeşim nochmals angerufen hatte und sie wieder sehen wollte, hatte sie selbst überrascht. Die Worte ‚Ich liebe dich’ hatte er zwar nicht gebraucht, aber immerhin, er schien sie ebenfalls zu mögen und das reichte, um Yeşims Teenagerherz zu beflügeln. Gut gelaunt und ohne an das Geschehene zu denken lief sie, die Musik aus dem MP3-Player mitsummend, die Straße entlang zur Bushaltestelle. Der Bus war überfüllt, doch das war sie gewohnt.

 

 Drei Stationen später stieg sie aus und erkannte auch in der Dunkelheit leicht Kevin unter den anderen, die unter der Überdachung des U-Bahnhofs Maximilianstraße herumstanden. Auch er hatte sie gesehen. Die Jugendlichen begrüßten sich mit einer Umarmung und flüchtigem Küsschen auf die Wange.

 „Stark, dass es noch geklappt hat“, sagte Kevin. „Wo warst du eigentlich die ganze Zeit?“

 „Bei den Bullen, wie ich dir gesimst hab.“

 „Bei den – hast du was angestellt?“

 „Nö, was denkst du von mir. Die Sonni hat einen Typen zusammenklappen sehen – gerade, als du mich das erste Mal angerufen hast, mitten auf dem Christkindlesmarkt. Da hab ich sie aus den Augen verloren und sie hat mich nicht angerufen. Erst viel später hab ich sie erreicht – und da war sie bei den Bullen, weißt schon, in der Theresienstraße, weil sie selber zusammengeklappt ist – der Typ war sofort tot.“

 Kevin musste zweimal nachfragen, bis ihm klar wurde, was passiert war. „Sofort tot – und plötzlich zusammengeklappt, sagst du?“

 „Sagt die Sonni – ich war ja selber nicht dabei.“

 „Scheiße!“ Er drehte sich um.

 „Was ist los mit dir?“

 „Nicht so wichtig. – Lass uns ne Cola trinken gehen und dann runter zur Pegnitz! Was meinst du?“

 „Gern. Aber irgendwas ist los mit dir. – Klar, ein Toter, das ist schlimm!“

 „Klar ist das schlimm“, antwortete Kevin scheinbar teilnahmslos. „Aber so etwas gibt es, leider!“

 Obwohl er sich Mühe gab, es zu überspielen, merkte Yeşim, dass ihm die Sache näher ging.

 

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