„ Au! Verdammt!“, schrie eine Stimme aus dem See. Mehrere Jugendliche, die am Ufer lagen und sich bräunen ließen, erschraken.

 „Serkan?“, rief Ollie, der Größte und Stärkste der Jungen aus der Gruppe. „Schaffst du’s oder sollen wir dich holen?“

 „Bin nicht der Serkan. Bin der Carlo. Ja, ich schaff’s schon. Autsch!“

 Die Jugendlichen, die am Seeufer zelteten und in jenem Moment faulenzten, schwammen oder Volleyball im Kreis spielten, waren eine Jugendgruppe der Wasserwacht, weshalb sie alle gute Schwimmer und auch im Rettungsschwimmen geübt waren.

 

 Franco, der Junge, der gerade noch versucht hatte, ein Mädchen aus seiner Gruppe auf ein Eis einzuladen, sprang auf und rannte ins Wasser. Auch Yeşim,  das Mädchen nahm die Ohrstöpsel aus den Ohren und sauste ihm nach, ebenso wie Ollie und zwei andere.

 „Mann, keine Angst, ich schaff’s! Gia ci sono!“, rief der Junge im Wasser Franco entgegen, der bereits auf ihn zu kraulte. Er schaffte es tatsächlich, tat sich aber, als er stehen konnte, schwer, aufzutreten. Franco und Ollie stützten ihn.

 „Leg dich mal hin!“, befahl Ollie. „Wo tut’s weh? Das rechte Bein.“

 „Ja, Autsch!“

 Ollie drückte auf einige Stellen am Bein. Zweimal schrie Carlo auf.

 „Sieht nicht aus als ob was gebrochen wär! Aber sicher ist sicher – Sonni, such mal die Anja oder den Steffen!“

 Das blonde Mädchen, das gerade von den Zelten her zum Strand gekommen war, stand stramm, salutierte und lief zurück.

 „Was genau ist dir passiert?“, wollte nun Yeşim wissen.

 „Weiß auch nicht. Ich und der Mark haben wettgetaucht und dann bin ich gegen irgendwas gestoßen, unter Wasser. Hab nicht gesehen, gegen was.“

 „Wundert mich. Wer gegen Felsen stößt, schürft sich doch normal auf, oder?“, fragte Franco.

 „Glaub, gibt hier auch keine Felsen. Die werden sie rausgeräumt haben – das ist ja kein natürlicher See“, kommentierte Ollie.

 „Ach nee!“, ätzte ein anderer Junge. „Ein Glück, dass du so schlau bist – aber, ohne Scheiß: Da laden öfter mal irgendwelche Asis ihren Müll ab. Vielleicht ist er da wo dagegen gekracht.“

 

 „Vielleicht lasst ihr mich mal durch und hört ´es Schwätzen auf!“, befahl eine junge Frau, die nun gemeinsam mit dem mit ‚Sonni‘ angesprochenen Mädchen dazu kam.

 Sie sah sich Carlos Bein genauer an. „Ich glaube auch nicht, dass was gebrochen ist – aber sicherheitshalber bringen wir dich mal zum Doc. Kannst du aufstehen?“

 Er tat sich schwer. Ollie und Franco mussten Carlo stützen und brachten ihn zum Auto ihrer Betreuerin.

 „Was ist überhaupt passiert?“, fragte Sonja, die sich nun zu den anderen hockte. Ein großer Junge mit recht kurzen Haaren setzte sich hinter sie und legte die Arme um ihren Hals.

 „Weiß auch nicht genau“, antwortete Yeşim. „Plötzlich hat er geschrien.“ Sie streckte ihren linken Arm aus, kniff ein Auge zu und bewegte den Arm langsam hin und her, bis ihr Daumen auf das Nordende des Dammes zwischen Igelsbachsee und Großem Brombachsee zeigte. „Zwei Finger nach Rechts, vielleicht 400 Meter von hier. Genauer kann ich’s nicht sagen.“

 „Ist ja schon mal ein Anfang. Ich schau mir das mal an“, rief Sonjas Freund. „Bis gleich!“ Er gab Sonja einen Kuss, stand auf, ging zu seinen Sachen, holte eine Taucherbrille und lief ins Wasser.

 „Ich auch!“ Yeşim, deren Tasche neben ihrem Badetuch stand, brauchte nur einen schnellen Handgriff, um ebenfalls ihre Taucherbrille aufzusetzen und ihm nachzulaufen und später nachzuschwimmen.

 Sein erster Tauchversuch war erfolglos.

 „Ich glaub, es war doch weiter rechts!“, meinte Yeşim und versuchte es nochmals. Inzwischen waren auch Sonja und zwei andere Jungen im Wasser.

 „Verteilen! Sonst haben wir keine Chance“, übernahm Yeşim das Kommando. „Andi, bleib dort, wo du gerade bist. Ich geh noch ein Stück nach rechts. Tim, du kannst auch bleiben – Sonni, wenn du ungefähr in die Mitte zwischen dem  Tim und mir gehst und du, Hannes, noch ein Stück nach rechts. Du, Andi, und ich orientieren uns vom Land weg, du, Sonni, und du, Hannes, zum Land hin und du, Tim, bleibst ungefähr in gleicher Entfernung vom Ufer, aber schwimmst immer weiter Richtung Osten – näher an der Linie Richtung Enderndorf war’s auf keinen Fall.“

 

 Hannes war es schließlich, der nach einigen Versuchen fündig wurde. „Da liegt ein Motorrad unten!“

 „Hier? Der muss es ja von `nem Boot aus reingeschmissen haben!“, wunderte Sonja sich. Auch Yeşim glaubte es nicht, tauchte nach, sah es aber schließlich selbst.

 „Na und?“, widersprach Andreas. „Am Ufer findet’s jeder und du kriegst gescheiten Ärger mit den Bullen, wenn du Sachen ins Wasser entsorgst. – Tim, hol den Winkelmesser her, sonst finden wir die Stelle wieder nicht!“

 Tim kam kurz darauf wieder zurück und Andreas maß zwischen dem Nordende des Igelsbachseedamms und dem Südende des Damms zwischen Kleinem und Großem Brombachsee 62 Grad 50 Minuten, wenn man sich in gerader Linie zwischen dem Südende des letzteren Damms und dem Bootssteg bei dem Zeltplatz, bei dem die Jugendlichen waren, befand.

 Am Vortag hatten sie alle das Winkelmessen vom Boot und vom Wasser aus geübt und Andreas hatte mit Abstand gewonnen; dennoch hätte niemand gedacht, dass sie ernsthaft geprüft würden.

 „Kann sein, dass ich ein, zwei Minuten daneben lieg, aber auf jeden Fall müsste man das vom Boot aus finden können. Also ab, sagen wir den Kollegen Bescheid, dass sie’s rausfischen, bevor nochmal was passiert! Hier versuchen öfter welche zu tauchen und nicht jeder kann so gut schwimmen wie der Carlo!“

 

 Sie meldeten den Fund ihren erwachsenen Kollegen und diese schickten tatsächlich professionelle Taucher in den See. Neugierig sahen die Jugendlichen vom Ufer aus zu, wie diese erst das Motorrad, danach noch andere Gegenstände bargen.

 „Da ist wohl der Typ, dem das Motorrad gehört hat, mit im See gelegen“, kommentierte einer der Taucher, als die Aktion abgeschlossen war. „Und nicht erst seit gestern. Der ist da wohl mitsamt seiner Maschine reingefahren.“

 „Selbstmord?“, wollte Sonja wissen.

 „Keine Ahnung. Der Typ ist bestimmt ein paar Jahre tot, wenn die Knochen schon einzeln liegen. Auf jeden Fall müssen wir die Bullen rufen.“ Er tat es sofort per Handy.

 

 Beinahe gleichzeitig trafen die Polizei und Anja, die Leiterin der Jugendwasserwacht, mit dem verletzten Carlo im Lager ein. Letzterer hatte glücklicherweise nur eine Prellung am Schienbein und konnte bereits wieder ohne Schmerzen laufen. Die beiden Polizisten stellten ihm, Hannes und den diensthabenden Männern der Wasserwacht einige Fragen und fuhren wieder.

 

 

 „In die Gerichtsmedizin!“, entschied der leitende Inspektor. „Die können auch sagen, wie lang die Leiche im See gelegen hat.“

 Am späten Nachmittag rief Gerichtsmediziner Dr. Stiegler beim Morddezernat des Polizeipräsidiums Nürnberg an und schilderte, was er erfahren und was er herausgefunden hatte: „Die Knochen, die die Wasserwacht rausgefischt hat, sind ungefähr fünfzehn Jahre oder noch ein bisschen länger im See gelegen. Sie gehören zu einem Mann, der damals wohl um die zwanzig und ziemlich groß, mindestens eins neunzig, und auch recht muskulös war. An dem einen Oberarmknochen und am Brustkorbknochen hat er Verletzungen – er ist entweder böse gestürzt oder hat sich kurz vor seinem Tod mit einem oder mehreren anderen geprügelt. Ob die Verletzungen zum Tod geführt haben, ob er ertrunken oder was sonst passiert ist, wissen wir nicht.“

 „Aber mit Mord ist zu rechnen, sonst hätten Sie ja wohl nicht mich angerufen?!“

 „Gut möglich. Sieht nicht so aus, als ob er freiwillig in den See gefahren wär.“

 

 Kommissar Michael Klein, der den Anruf entgegennahm, ließ auch die Reste des Motorrads untersuchen. Es handelte sich um eine Honda Rebell mit Ansbacher Kennzeichen. Die letzte Ziffer war vermutlich eine sechs, der Rest des Kennzeichens war zerstört.

 Klein stöhnte. Seine Erfolgsaussichten dürften wohl eher gering sein. Er lud die Vermisstenanzeigen der 90er-Jahre vom Computer herunter, sortierte zunächst alle Frauen, danach alle Männer mit Geburtsjahr vor 1960 und nach 1980 aus. Dennoch blieben noch eine Menge ungeklärter Fälle übrig.

 

 Am nächsten Morgen erstattete er seinem Vorgesetzten, Hauptkommissar Kröber, Bericht. „Hab schon geschaut; es gibt zig Vermisstenanzeigen aus der Zeit.“

 „Na, dann lass uns mal logisch überlegen, Michl“, antwortete der. „Motorrad mit Ansbacher Kennzeichen. Schauen wir uns erstmal alle Akten an, wo das Stichwort ‚Motorrad‘ drinsteht – ich hab ´dacht, ihr jungen Leute seid so fit in Computersachen und etz muss ich dir so was sagen – und dann als nächstes, wo die Leute herkommen.“

 „Der Kreis Ansbach liegt bloß direkt neben dem Brombachsee. Außerdem kann er die Maschine ausgeliehen oder geklaut haben.“

 „Dann schauen wir schlimmstenfalls, ob es aus der Zeit noch ungeklärte Fälle von Motorraddiebstahl gibt – oder uns fällt was Besseres ein. Sag, hat die Wasserwacht nicht gesagt, sie haben die Sachen zwei, dreihundert Meter im See drin gefunden?“

 „Mehr. Da stehen die genauen Koordinaten. 450 Meter Entfernung vom Ufer, heißt es hier. Aber was bringt uns das?“

 „Mein lieber Michl, die Frage hätt‘ ich von unserer norddeutschen Kollegin erwartet, aber nicht von dir. In den 90er Jahren ist der Große Brombachsee erst geflutet worden – Vollstau 1998. Und wir sind uns wohl einig, dass es leichter ist, ein Motorrad samt Fahrer vom Ufer aus in den See zu schmeißen als extra ein Boot zu mieten.“

 „Aber auch leichter, es zu finden.“

 „Nochmal ganz langsam und zum Mitschreiben: Das ist nicht heuer passiert, auch nicht letztes Jahr. Nehmen wir mal an, das war Ende August, Anfang September, also jedenfalls am Ende der Badesaison. Der Mann aus dem See prügelt sich mit anderen, wie der Stiegler vermutet;  dabei bringen ihn die anderen um. Die Sache passiert am Seeufer, das heißt, dort, wo damals das Seeufer war. Der Mörder weiß genau, dass dann, wenn im nächsten Jahr die Badesaison anfängt, das Ufer schon wieder mindestens 100 Meter oder mehr landeinwärts sein wird – und die Strände auch noch nicht alle freigegeben sind; Touris in Mengen gibt’s zu der Zeit bloß am Kleinen Brombachsee. Es reicht also, Motorrad und Fahrer ein paar Meter ins Wasser zu schaffen, gerade so, dass sie auch wenn der Wasserstand zurückgeht nicht mehr zu sehen sind.“

 „Du meinst also…“

 „Ich mein, es müsste doch beim Wasserwirtschaftsamt Karten geben, wie weit der See in welchem Jahr ging; die besorgen wir uns, vergleichen mit den Koordinaten und schauen uns an, ob es im Herbst des entsprechenden Jahres vermisste Männer, die damals um die zwanzig Jahre alt und mit dem Motorrad unterwegs waren, gibt. Während der Badesaison selber ist das wohl eher nicht passiert; dafür gab’s damals schon zu viel Publikum dort.“

 

 Kommissar Klein erhielt die Pläne zwar nicht vollständig, aber doch so, dass klar wurde, dass die Fundstelle 1995 oder 1996 im Wasser verschwunden war. Im Jahr 1995 gab es drei noch ungelöste Fälle in Mittelfranken, die ins Schema passten; zusätzlich kam einer aus Schwaben und je zwei aus Nordwürttemberg und Unterfranken. Einen der Mittelfranken sortierte Klein sofort aus, da der Vermisste als nur 1,70 Meter groß beschrieben wurde. Ein weiterer war zuletzt in Tschechien gesehen worden; die tschechische Polizei hatte im Jahr 2003 bei Olmütz zwei Leichen, wohl Opfer einer internationalen Verbrecherorganisation, gefunden, die in einem Auto mit deutschem Kennzeichen in die Luft geflogen waren und von der auf eine die Beschreibung passte. Der Mann war jedoch zu stark entstellt, als dass man ihn sicher hätte erkennen können.

 Dagegen passte die Beschreibung je eines Mittelfranken und eines Württembergers genau: Beide Motorradfahrer, beide im entsprechenden Alter – einer Jahrgang 1972, der andere 1973 – beide über 1,90 Meter groß und beide im September 1995 mit unbekanntem Ziel unterwegs gewesen.

 

 Eine Anfrage in Stuttgart ergab, dass bereits im Jahr 2004 bei Crailsheim eine Leiche gefunden worden sei, die ‚mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit‘ die des vermissten Württembergers sei; der Fall sei nur noch nicht abgeschlossen, da die Todesursache nach wie vor unklar sei.

 „Gut, dann ist der andere unser Mann“, stellte Kröber fest und las halblaut die Akte: „‘Gerber, Florian, geboren am 8.5.1972, letzter Wohnort: Feuchtwangen, vermisst ab 19. September 1995. Beruf: Student an der FH,‘ – ja, die üblichen Sachen – hier wird es interessanter: ‚zuletzt auf Motorradtour, gemeinsam mit Christoph Sperlich aus Bad Neustadt, letzter gesicherter Aufenthaltsort Luzern, Schweiz, am 18.9.95‘ – ja, und noch was: ‚Akte am 15. Mai 1998 an Kripo Würzburg überstellt, Aktenzeichen CX44-A98.‘ – So, einer von euch schaut, ob die Adresse von seinen Eltern noch die gleiche ist und ruft an, wenn ja, der andere stellt fest, um was es beim Fall CX 44-A98 von den Würzburgern gegangen ist.“

 „Worum es bei dem Fall ging“, verbesserte Kommissarin Birgit Peters, die an diesem Tag ebenfalls im Raum saß.

 „Halt die Waffel und schau nach! – Und du, Michl, wonach willst du lieber suchen? Nach den Eltern von diesem Florian Gerber oder nach Christoph Sperlich?“

 „Den Gerber kriegen wir schnell“, antwortete der und lud das Telefonbuch. „Gibt mehrere Gerbers in Feuchtwangen. Kann ich die Adresse haben.“ Kröber schob ihm die Akte wortlos hinüber.

 Er fand heraus, dass sie zu einem „Gerber, Anton, Elektrikermeister“, gehörte, der tatsächlich noch im selben Haus wohnte. Sofort rief er an, erreichte Frau Gerber, die bestätigte, die Mutter des vermissten Florian Gerber zu sein. Sie wollte auch wissen, ob es eine Spur gebe, wer der Mörder sei und fing an zu weinen, als Klein es ihr nicht sagen konnte.

 

 „So, die Herren!“, meldete sich Birgit Peters. „Hier ist die Akte aus Würzburg – Intranet macht’s möglich. Es ging damals um einen Max Gerber, der angeklagt war, einen gewissen – Spannung steigt! – Christoph Sperlich zu ermorden versucht zu haben. Max Gerber gab Sperlich die Schuld am Tode seines Bruders Florian.“

 „Na schau an! Und wo ist dieser Max Gerber jetzt?“

 „Max Gerber wurde vom Gericht für nicht zurechnungsfähig erklärt und ins Bezirkskrankenhaus Ansbach eingewiesen. Offenbar konnte er nicht schlüssig erklären, wie er darauf kam, dass Sperlich seinen Bruder getötet haben könne und schließlich ließ der Richter ihn psychologisch untersuchen.“

 

 „Gut, dann müssen wir rauskriegen, ob Max Gerber immer noch im Irrenhaus sitzt und, wenn’s geht, ihn und auf jeden Fall seine Eltern befragen, wie er auf die Idee gekommen ist, dass der Sperlich seinen Bruder umgebracht hat. Vielleicht ist er nach vierzehn Jahren klarer im Kopf. Und die Würzburger Kollegen sollen mal schauen, dass sie diesen Sperlich finden. Ich ruf gleich mal an“, fasste Kröber die Aufgabenstellung für die nächste Zeit zusammen.

 

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