Die nächsten Schritte ihrer Englischlehrerin sah Alexandra voraus wie ein guter Schachspieler die Spielzüge eines mittelmäßigen: In der nächsten Englischstunde wurde sie abgefragt und musste Informationen aus einem extrem schweren Hörbeispiel erkennen, wobei Frau Steger sie so oft wie möglich unterbrach. Dennoch erkannte Alexandra das meiste; dass sie nur einen Dreier erhielt, fanden sogar die Quasi Subiecti ungerecht und Superbissimi gab es in der 8 c längst nicht mehr. In der Pause übertrafen sich die Schüler ohne Aufforderung gegenseitig mit Vorschlägen, die nächste Englischstunde zu sabotieren und niemand fehlte am Montagmittag, als Alexandra die Choreographie ansetzte.

Diejenigen, die für Alexandra Verweise in Kauf genommen hatten, erhielten ihre Belohnung: Vanessa drei Schachteln Zigaretten, davon zwei umsonst, Jan die Lateinübersetzung umsonst sowie einen Gutschein für zwei weitere und die schüchterne Julia, die sich freiwillig in Alexandras Schutz gestellt hatte, um dem Mobbing ihrer Klassenkameradinnen zu entgehen, eine Einladung zum Kaffee und ins Kino für Samstag.

In der nächsten Englischstunde wurde mitgebracht, was an Scherzartikeln vorhanden war: Das Pult war mit farblosem Leim verschmiert, sodass Frau Stegers Buch klebenblieb; ständig quietschte und krachte es immer genau hinter dem Rücken der Lehrerin, Handys klingelten dank Rufwiederholung und Wecker gleichzeitig an entgegengesetzten Enden des Klassenzimmers, jeder einfallende Sonnenstrahl wurde kreuz und quer gespiegelt. Nach etwa 30 Minuten fiel auch eine Stinkbombe.

Frau Steger konfiszierte zwei Handys (Man hatte geübt, wie man das Gerät so deponierte, dass nicht auf Anhieb der Besitzer erkennbar war), fünf Quietschmäuse und sieben Kracher, insgesamt zehn Schüler mussten Nachsitzen und als es stank, befahl sie, die Fenster zu schließen, die Hefte zu öffnen und nach Diktat zu schreiben.

Lea wurde schlecht und sie musste erbrechen, womit die Stunde endgültig beendet war. Alexandra schrieb diesmal angestrengter mit denn je: Der nächste Schritt würde zweifellos ein Extemporale sein und Frau Steger würde sich umso mehr ärgern, je besser es ausfallen würde. Nachmittag und Abend verbrachte sie damit, sich mögliche komplizierte Fragen und Sätze zu überlegen, die sie mit Lösungen in ihr Notebook eintippte und vor dem Schlafengehen per Mail an die Klassenkameraden verschickte.

 

„Wir wissen natürlich, was passiert ist, aber wir behandeln dich zunächst als unbeschriebenes Blatt. Du erhältst deine neue Chance. Bitte nütze sie!“

Mit diesen Worten hatte Direktor Wilhelm Andreas am Heisenberg-Gymnasium empfangen. Der Junge kannte die Lehrersprache gut genug, um übersetzen zu können: „Du bist ein asoziales Objekt und wirst es bleiben. Pass bloß auf, dass du nicht gleich wieder fliegst!“ Lehrer, die wirklich gerecht waren, hatten es nicht nötig, das zu betonen.

Nun gut, er würde sich Mühe geben, dem Direktor der neuen Schule zunächst aus dem Weg zu gehen. Immerhin würde es wohl andere Lehrer geben, die tatsächlich meinten, was dieser gesagt hatte.

Er war über seinen Schulverweis ohnehin nicht ganz unglücklich: Zu oft war er in den letzten anderthalb Jahren angeeckt, zu viele Feinde hatte er sich geschaffen. Schon im Sommer hatte er die Schule wechseln wollen, doch vor allem seine Mutter hatte es abgelehnt: Am Petrus-Canisius-Gymnasium hätte er immerhin seine Freunde und die meisten Lehrer würden schon sehen, wie die Dinge wirklich standen.

 

Er schob sein Fahrrad in den Fahrradkeller. Vor einem freien Platz standen zwei ältere Jungen und unterhielten sich.

„Sorry, kann ich da mal vorbei?“, fragte Andreas.

„Nö. Der Platz ist besetzt.“

Andreas diskutierte nicht weiter. Eine Lappalie wie ein bestimmter Fahrradstellplatz war es nicht wert, gleich am ersten Tag Ärger zu riskieren.

Er hatte sein Rad gerade abgesperrt, als ein Mädchen das ihre auf den Ständer hinter den beiden Jungen hob. Ihr hatten die beiden bereitwillig Platz gemacht. Sie schien nicht die Freundin eines der beiden zu sein. Entweder wollten sie ihr gefallen oder sie gehörte zu einem der Bandenführer hier.

Er hatte den Vorfall schon vergessen, als er am Konrektorat klopfte.

„Ach so, unser Neuer. Komm mit!“, brummte der Bewohner des Raums. Andreas fand ihn halbwegs sympathisch, weil er gar nicht so tat, als sei er ihm willkommen.

Das neue Klassenzimmer lag im zweiten Stock. Andreas zählte 29 andere Schüler. Ein junger Lehrer, laut Stundenplan hieß er Müller, unterrichtete Mathematik und Physik und war außerdem Klassleiter, stand neben dem Pult. Die Schüler erhoben sich, als der Konrektor den Raum betrat.

„Guten Morgen, Herr Müller, guten Morgen, Klasse 8c. Ab heute habt ihr einen neuen Mitschüler, Andreas Lenz“, sagte dieser knapp und schaute sich im Raum um. „Ist der Platz neben dir frei?“

Das Mädchen, das er angesprochen hatte, war das vom Fahrradkeller. Sie war größer als alle anderen Mädchen und auch als die Mehrzahl der Jungen.

„Eigentlich nicht“, antwortete sie.

„Weiß jemand, ob die Katharina…“, fragte der Lehrer.

„Die Katha ist krank. Fieber!“, platzte ein anderes Mädchen heraus. „Ich hab sie angerufen, weil wir sonst immer zusammen fahren.“

„Gut, danke, Sonja. Andreas, dann setzt du dich für heute neben Alexandra. – Willst du der Klasse sonst noch etwas über dich sagen?“

„Also, ich bin der Andi, bin 14 Jahre alt, meine Hobbys sind Programmieren und Taekwondo. Sonst noch Fragen?“

Natürlich kamen einige, doch der Lehrer würgte sie ab: „Das wird sich im Lauf des Schuljahrs klären. Gut, setz dich!“

Alexandra streckte ihm die Hand hin: „Also, ich bin die Alexa, bin auch 14, meine Hobbys sind Lesen, Kampfsport und Radfahren“, flüsterte sie. „Weitere Fragen sind nicht erlaubt.“ Ihr Händedruck war kräftig, wie bei einem Mann.

Ansonsten verhielt sie sich unauffällig. Sie schrieb ab, was Herr Müller an die Tafel schrieb und zog gelegentlich ihr Smartphone heraus, wenn er wegsah. Was genau sie damit tat, konnte Andreas nicht erkennen.

 

Der Mathematik- und Lateinunterricht waren durchschnittlich, die Klasse verhielt sich mehr oder weniger normal. Andreas schrieb mit, was befohlen wurde, beteiligte sich aber weder am Unterricht noch an den Unterhaltungen während des Stundenwechsels. Er war zwar keineswegs schüchtern, doch wusste er, dass eine Schulklasse ein kompliziertes Sozialsystem war und hatte aus schlechter Erfahrung die Lehre gezogen, besser erst zu beobachten, wer das Sagen hatte, welches Verhalten gern gesehen wurde und wie man sich Respekt verschaffte. Danach konnte man allmählich sehen, wer auf der gleichen Wellenlänge lag und vor wem man sich besser in Acht nahm.

Aus diesem Grund beantwortete Andreas in der Pause die Fragen seiner neuen Klassenkameraden auch einsilbig: Ja, er sei geflogen, er habe sich mit einigen Lehrern und Mitschülern angelegt aber er wolle nicht darüber reden.

Nach der Pause folgte Englisch, das mit einem Extemporale begann. Andreas bekam das Blatt ‚zur Übung‘ und fand es ganz schön schwer, zumal die neue Klasse auch im Stoff weiter zu sein schien als die alte.

Nach Ende der Arbeit brach Unruhe aus, die bis zum Stundenschluss andauerte. Aus einem Grund, den er zunächst nicht verstand, kam ihm das ungewöhnlich vor.

„Die war ganz schön heavy, fand ich“, flüsterte er seiner Nachbarin zu. „Die Ex, mein‘ ich.“
„Racheex. Normal gehen der ihre Exen“, flüsterte Alexandra knapp zurück.

Andreas dachte weiter nach und es fiel ihm ein: Bei eigentlich allen Lehrern am „Canisius“, die sich nicht durchsetzen konnten,  gab es einen Grund: Entweder reagierten sie zu langsam, achteten überhaupt nicht auf die Schüler, waren zu gutmütig, ließen sich schnell ärgern oder sie drohten Strafen an, ohne sie tatsächlich zu verhängen. Diese Frau Steger reagierte schneller auf offen sichtbare Handys oder Unterhaltungen als der Latein- und Mathelehrer, ermahnte ruhig und die beiden, die nach einer Verweisankündigung weiter störten, erhielten ihren Verweis, doch es schien nichts zu nützen.

Nach der Biologiestunde kam die zweite Pause. Ein Junge ging auf Alexandra zu: „Alexa?“

„Was ist los, Jan?“

„Sollen wir kommen oder nicht? Morgen mein ich.“

„Ist mir eigentlich egal. Ich rat euch bloß, dass ihr euch einigt: Entweder alle, die sich nicht befreien lassen können, gehen hin oder gar keiner. Ob sie zehn Verweise schreibt, wird sie sich vielleicht überlegen. Das würd dem Willi Wichtig auffallen und das kann sie nicht wollen.“

„Okay, ich red mit den anderen.“ Er ging weg

„Jan!“ Sofort drehte sich der Angesprochene um. „Aber wenn ihr hingeht, dann überlegt euch was, damit sie so schnell nochmal zehn von uns nachsitzen lässt!“

Erste Lektion: Alexandra besaß in dieser Klasse offenbar eine große Autorität.

 

In der Pause schaute Andreas in sein Englischbuch. Vor allem der Conditional, Typ 3 war für ihn völlig neu.

„Alexa?“, fragte er, als sie wieder im Klassenzimmer waren. „Hast du irgendwann mal kurz Zeit, mir den Conditional zu erklären. Du hast ja offensichtlich bei der Ex was gekonnt.“

„Heute gleich nach der sechsten – Oder musst du sofort heim?“

„Nö, ich hab Zeit. Meine Eltern arbeiten beide.“

„Kannst auch erst mit in die Mensa gehen – obwohl: Eigentlich ist das schnell erklärt.“

„Braucht man da ne Karte, also für die Mensa?“

„Braucht nicht unbedingt, aber kostet viel weniger mit Karte.“

 

Sie hockten sich nach Schulschluss auf eine Bank in der Nähe des Lehrerzimmers. „Also: Typ 3 ist, wenn etwas schon vorbei ist, also ‚Wenn wir besser gespielt hätten, hätten wir gewonnen‘“, begann Alexandra kurz.

„Also eigentlich wie im Deutschen? Das ist alles?“

„Eigentlich schon. Nur, dass du im if-Satz eben had verwendest und im Hauptsatz would have done.“

„Wie bei Typ 1 und 2. Also dein Beispiel wäre ‚If we had played better, we would have won‘, stimmt’s.“

„Genau.“

„Das war’s schon?“

„Sag ich ja. Also, kommst du mit oder nicht?“

„Ich schau mich lieber mal um.“

 

Andreas ging durch das nun halbleere Schulgebäude, merkte sich, wo die Fachräume für Naturwissenschaften, Kunsterziehung und Musik waren. Zum Schluss ging er hinunter zur Mensa, woher die meisten schon wieder zurückkamen und von dort zu den Turnhallen. Gerade was Pausenhalle und Sportbereich betraf, schien das Heisenberg-Gymnasium deutlich besser ausgestattet zu sein als das Canisius: Es gab in der Pausenhalle Sitzgruppen, drei Tischtennisplatten und zwei Kickertische. Auch Internetnutzung war gegen geringe Gebühr möglich. Bei den Turnhallen befand sich auch ein Fitnessraum, der nachmittags geöffnet war. Andreas beschloss, ihn in den nächsten Tagen einmal auszuprobieren.

 

Alexandra war sich sicher, in ihrem Privatkrieg gegen Frau Steger um einen großen Schritt weitergekommen zu sein: Von fünfzehn Sätzen, die sie sich überlegt hatte, waren fünf fast wörtlich vorgekommen. Soweit sie es heraushörte, hatten die meisten anderen ein gutes Gefühl.

Noch nicht ganz einschätzen konnte sie den neuen Mitschüler. Er hatte sich den Tag über bedeckt gehalten. Dumm schien er nicht zu sein, sonst hätte er den Typ 3 nicht sofort kapiert – Frau Steger hatte deutlich ausführlicher erklärt, doch viele hatten sich anfangs schwergetan.

Es wäre interessant, zu wissen, warum er von seiner alten Schule geflogen war, doch war sie sich nicht sicher, ob er es ihr sofort sagen würde. Vermutlich war es besser, Spione auf ihn anzusetzen.

Soweit sie gesehen – er trug einen eher engen Pullover – und beim ‚versehentlichen‘ Anstupsen gespürt hatte, besaß er ziemlich kräftige Muskeln. Eventuell bot das einen Ansatz, ihm seinen Platz zuzuweisen: Gerade starke Jungen ließen sich von starken Mädchen leicht verunsichern.

Ansonsten mussten sie und andere versuchen, mehr aus ihm herauszulocken. Er selbst sollte von ihrer, Alexandras, Stellung möglichst bald erfahren; dann würde sich auch bald zeigen, ob er sich unterordnen oder Widerstand leisten würde.

Zunächst sollten Kevin, der ebenfalls Computerfreak war und Lukas, der Taekwondo machte, mit Andreas Kontakt aufnehmen. Falls sie es nicht von sich aus täten, würde sie dafür sorgen.

 

Am nächsten Tag war der neue Tisch angetroffen und Andreas musste allein sitzen, da Alexandras Banknachbarin wieder in der Schule war. Er wunderte sich, dass zwei äußerlich so unterschiedliche Mädchen offenbar befreundet waren: Katharina war klein, zierlich und etwas zu grell angezogen und geschminkt. Alexandra trug wenig figurbetonte Kleidung und Andreas war sich nicht sicher, ob sie Schminke im Gesicht hatte. Am ‚Canisius‘ waren Mädchenfreundschaften meist durch gleiches oder ähnliches Styling erkennbar.

Ihm fiel auf, dass Alexandra relativ ungeniert während des Unterrichts in einem Buch las. Merkten die Lehrer das nicht oder waren sie so gutmütig?

In den Zwischenstunden und Pausen begannen die anderen langsam aufzutauen: Man fragte Andreas nach seinem Musikgeschmack, seinen Freunden und seiner Wohngegend. Auch die anderen erzählten mehr über sich. Kevin, der ebenfalls programmieren konnte, bot ihm sogar an, sich einmal zu treffen. Er zeigte ihm einige Grafiken auf seinem Smartphone. Das konnte Kevin, das musste man ihm lassen; mit Animation hatte er dagegen erst angefangen. Sie tauschten die Handynummern.

Ende der zweiten Pause wurde der 8c von einem fremden Lehrer aufgesperrt, ehe Herr Hofmann kam. Lukas und ein anderer, der Daniel hieß, begannen mit Armdrücken. Lukas gewann, Kevin forderte ihn heraus und verlor ebenfalls. Anschließend begannen Jan und Lukas, eifrig von den anderen unterstützt. Es ging längere Zeit hin und her, bis Herr Hofmann das Zimmer betrat und um Ruhe bat.

„Wir machen’s nach der sechsten aus, okay, Lucky?“, schlug Jan vor.

„Von mir aus. Dich hab ich in ein paar Sekunden.“

Andreas war gespannt, wie viele andere folgen würden. Offenbar war Armdrücken hier noch populärer als in seiner alten Klasse. Umso besser, er hatte im letzten Jahr kräftig Muskeln zugelegt und würde vielleicht nicht gegen alle, aber gegen etliche gewinnen.

 

Tatsächlich folgten fast alle Lukas und Jan nach der sechsten Stunde zu den Sitzbänken vor dem Direktorat. Auch Schüler aus anderen Klassen gesellten sich dazu.

Die beiden Jungen lieferten sich lange einen ausgeglichenen Kampf, doch schließlich gewann Lukas. Während die ersten sich schon zum Heimgehen wandten, forderte Andreas Lukas auf.

Lange bewegte sich nichts zwischen den beiden. Andreas schaute kurz auf, als eine helle Stimme rief „Ich fordere den Sieger!“

Beinahe hätte Lukas ihn überrascht, doch er brachte die Arme noch in Ausgangsstellung, gewann schließlich einen Vorteil und kurz darauf lag Lukas‘ Arm auf dem Tisch. Die Umstehenden jubelten.

„Ich hab schließlich vorher schon gegen den Jan gekämpft“, rechtfertigte Lukas seine Niederlage.

„Okay, Revanche jederzeit!“, antwortete Andreas.

„Außer jetzt!“ Alexandra gab Lukas einen Rippenstoß und setzte sich Andreas gegenüber.

„Du willst echt?“, fragte Andreas.

„Ja. Oder traust du dich nicht?“ Alle anderen kicherten, was Andreas‘ Bedenken, gegen ein Mädchen zu kämpfen, zerstörte: Wenn er sich nicht blamieren wollte, musste er die Herausforderung annehmen.

Tatsächlich hatte Alexandra Kraft. Ihm kam vor, als spüre er mindestens denselben Widerstand wie bei Lukas vorher. Ihre Muskeln spannten sich, sodass sie trotz der weiten Ärmel ihrer Bluse sichtbar wurden. Und – sie grinste ihn an. Er erhöhte den Druck, gab sein Letztes, doch noch immer geschah nichts. Plötzlich verstärkte sie ihren Druck, erst langsam, dann immer stärker, bis Andreas nachgeben musste. Eine Sekunde später lag sein Arm auf dem Tisch.

„Okay, vielleicht warst du von vorhin noch fertig. Nochmal mit links?“

Er akzeptierte und sie stellten die linken Arme gegeneinander auf. Diesmal drückte Alexandra von vornherein mit voller Kraft, sodass es nur wenige Sekunden dauerte, bis Andreas verloren hatte.

 Er gratulierte ihr und sie fragte in die Runde, wer sie nun herausfordern wollte. Niemand meldete sich.

„Okay, Jungs, dann schönes Wochenende!“ Sie stiefelte davon. Einige Jungen folgten ihr. Andreas wurde noch von Jan herausgefordert, den er besiegte.

 

Wenig später gingen auch die anderen. Als Andreas zum Fahrradkeller hinunterging, sah er Alexandra mit einigen älteren Jungen davor stehen. Sie schien nicht mit einem von ihnen liiert, aber unter ihnen akzeptiert zu sein. Das wunderte ihn nicht: Sie hatte sicher nicht die Figur einer Traumfrau, allein durch ihre Größe und muskulöse Statur, war auch nicht besonders teuer angezogen oder aufwändig geschminkt, doch sie hatte das gewisse Etwas, wegen dessen auch er ständig in ihre Richtung sehen musste.

Alexandra und die Jungen kicherten, als Andreas an ihnen vorbeiging. Er zwang sich, sie nicht zu beachten. Wahrscheinlich hatte es nichts mit ihm zu tun und wenn doch, war es besser, so etwas zu ignorieren, da sie ihn ja gerade verunsichern wollten.

 

Den Samstag verbrachte er bei den Großeltern, wo er sich mehrfach wegen seines Schulverweises rechtfertigen wollte. Immerhin glaubte man ihm, dass er tatsächlich kein Schläger war, wenn seine Großeltern es auch noch weniger verstehen konnten als seine Eltern, dass man ihn fotografieren konnte, wie er mit einem Teleskoprohr in der Hand auf Oliver losgegangen war, wenn doch in Wirklichkeit dieser ihn damit angreifen wollte und er es ihm lediglich abgenommen hatte. Noch weniger glaubhaft erschien, dass sein damals bester Freund Peter die Version Olivers und seiner Kumpane offenbar bestätigt hatte – zumindest hatte das Direktor Drach gesagt; er selbst sprach seitdem nicht mehr mit Peter. Dass sein bester Freund seit Beginn der Gymnasialzeit ihn verraten und Mobbern und Schlägern wie Oliver und seiner Bande geholfen hatte, war die schwerste Enttäuschung für Andreas gewesen.

 

Am Montagmorgen fand er dort, wo Alexandra sonst ihr Fahrrad abgestellt hatte, eine Lücke vor, die er ausnützte. Kaum hatte er abgesperrt, kam allerdings Alexandra und forderte ihn in dem ruhigen, aber festen Ton, in dem sie meist sprach, auf, den Platz freizumachen.

Ihre Stimme forderte Gehorsam, doch so schnell wollte er nicht nachgeben: „Seit wann sind Stellplätze vergeben?“, fragte er spöttisch.

„Ach?“ Sie baute sich vor ihm auf und ballte die Fäuste.

„Wenn du denkst, ich prügel mich deshalb mit dir, täuschst du dich!“ Er packte seine Tasche und ging zum Ausgang.

Als er vor der Klassenzimmertür stand, vibrierte sein Handy. Er hatte eine SMS von einem unbekannten Absender: „Das hätte ich nicht getan!“

Woher konnte Alexandra seine Nummer haben? Oder stammte die SMS von jemand anderem?

Jedenfalls veränderte sich die am Freitag noch offene Haltung der Klasse ihm gegenüber zur Feindseligkeit: Den ganzen Montag, an dem, so wie am Mittwoch, der Unterricht bis 15:30 ging, sprach niemand mit ihm. Sowohl als er in Latein abgefragt wurde als auch als er sich in Geschichte zu Wort meldete, ging wie auf Kommando Unruhe in der Klasse los. Herr Güttler musste zweimal nachfragen, bis er Andreas‘ Einwand aufgrund der ausgeteilten Materialien verstanden hatte: Die Revolution 1848 sei zu sehr von Professoren und Studenten getragen gewesen; viele einfache Leute hätten sich wohl mit den Regierungen solidarisiert, weil man sich, anders als 1789, um sie gekümmert habe.

Der Lehrer widersprach, dem sei nicht so gewesen. Von den Schülern beteiligte sich ansonsten nur Alexandra, die meinte, es sei egal, ob die Leute das glaubten oder es wirklich so gewesen sei.

 Trotz allem nahm Andreas am Mittag nochmals einen Konflikt mit Alexandra in Kauf: Er ließ sie in der Mensa nicht vorbei und er reagierte nicht auf die Aufforderung, die Hantelbank zu verlassen, als Alexandra kam und sie nutzen wollte.

 

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