„Antreten!“

 Der Befehl des Hauptmanns kam nicht zackig wie gewohnt, sondern gleichgültig, so wie mein Vater sich anhörte, wenn er kurz vor Dienstschluss einen allzu langsamen Passanten aufforderte, doch bitte seinen Fahrschein vorzuzeigen. Auch standen die wenigsten von uns stramm.

 „Männer, dies ist meine vorletzte Ansprache an Sie. Die letzte wird in Wien stattfinden. Wir marschieren jetzt zum Bahnhof, wo der Zug nach Lemberg auf uns warten wird. Dort steigen wir gemeinsam um nach Wien. Erst dort wird die Kompanie aufgelöst. Helm ab zum Gebet!“

 Wir gehorchten, während der Feldgeistliche neben unseren Kommandanten trat, um den Reisesegen zu sprechen.

 „Abmarsch!“

 Wir nahmen unsere Rucksäcke auf und marschierten im Gleichschritt über die weite, von Schützengraben durchzogene Ebene. Die wenigen Häuser, die es hier gab, waren zerstört. Einige Bäuerinnen standen an der Straße und schauten uns hinterher, ohne eine Regung zu zeigen. Manche hatten ihre Häuser durch russische Geschütze verloren, andere hatten den Krieg ausgenützt und Selbstgebackenes und Schnaps an Soldaten verkauft – die nötigen Deutschkenntnisse hatten diese Frauen sich schnell angeeignet.

 Auf den Hügeln lag noch Schnee. Drei Winter hatten wir hier verbracht und es waren strenge Winter gewesen, in denen wir dennoch immer wieder in die Schützengräben steigen mussten. Einmal waren wir vorwärts gekommen, ein anderes Mal die Russen, doch im Wesentlichen hatte sich der Krieg seit über einem Jahr an derselben Stelle abgespielt. Seit gestern war es vorbei. Gestern Abend waren die kämpfenden Einheiten einander gegenüber angetreten und unsere sowie die russische Kriegsflagge feierlich eingeholt worden.

 Eine gute Stunde ging es durch die Ebene bis zum nächsten Bahnhof, dessen Gebäude durch ein paar russische Kanonenschüsse beschädigt, dessen Gleiskörper allerdings noch intakt war.

 

 Etwa eine halbe Stunde, nachdem wir den Bahnhof erreicht hatten, kam der Zug, der uns nach Lemberg bringen sollte. Es dämmerte bereits, als Galiziens Hauptstadt erreicht war. Zivilpersonen waren kaum unterwegs; der Nachtzug nach Wien war für uns reserviert. Vor der Abfahrt noch ein wenig Zeit für eine letzte Zigarette, einen letzten galizischen Wodka, den fliegende Händler gerne verkauften, dann das Kommando „Einsteigen!“

 Es war nach halb acht als der Zug sich in Bewegung setzte und das Nachtmahl hatten wir aus unseren restlichen Vorräten zu bestreiten. Gegen zehn Uhr erreichten wir Lemberg, wo wir durch den dunklen Bahnhof in einen Zug nach Wien gewiesen wurden. Wir mussten im Sitzen schlafen, da zu wenig Platz war. Mehrere meiner Abteilkameraden schnarchten und so waren wir kaum zum Schlafen gekommen, als der Zug in Ostrau in Mähren hielt und wir neue Tagesrationen zugeteilt bekamen.

 Das Frühstück war bescheiden, Brot und Eichelkaffee, den wir auf einem Samowar nach russischer Art kochten.

 Ohne größere Ereignisse ging es die March abwärts, gegen Mittag erreichten wir Brünn, wo im Gegensatz zu Lemberg vom Krieg kaum etwas zu sehen war, am späten Nachmittag fuhr der Zug im Wiener Bahnhof Praterstern ein.

 Etwa zwei Stunden mussten wir mitten durch die Kaiserstadt marschieren, bis wir in der Meidlinger Kaserne anlangten, wo wir die letzte Nacht in Uniform verbringen sollten. Am folgenden Morgen würden die Waffen abgegeben und vielleicht, wenn die Züge regulär fuhren, würde ich am Abend schon in der Stube meiner Eltern in Urfahr sitzen.

 

 Die Diskussionen waren den ganzen Tag über um dasselbe Thema gekreist: Warum hatte der Kaiser aufgegeben? Die Offiziere gaben auf diese Frage keine Antwort. Seine Majestät hatten geruht den Rückzug der Truppen von allen Fronten zu befehlen, das genügte. Für uns junge Männer, die wir mit großen Idealen in diesen Krieg gezogen waren, bedeutete die Kapitulation einen Einschnitt. Wollte der Kaiser ernsthaft Galizien den Russen überlassen? Den Russen, die Serbien, das Land, das den Mörder Gavrilo Princip[1] gedeckt und Österreich-Ungarn zum Narren gehalten hatte? Den Russen, gegen die unsere deutschen Verbündeten – viele sagten: Unsere Landsleute – so erfolgreich kämpften?

 Es gab einige, die von Verrat im Kaiserhaus redeten: „Er ist mit einer Welschen[2] verheiratet“, meinte einer.

„Am Hof regieren die Tschechen und Kroaten“, behauptete ein anderer.

 Andere freilich vermuteten, dass die Ungarn schuld seien, da sie dem Kaiser die Gefolgschaft versagt hätten, oder auch die Juden, die sich in den Hof eingekauft haben könnten.

 „Kein Jude hält es mit dem Zaren“, hatte Jakob Rosenzweig, der einzige Jude unserer Kompanie, widersprochen, doch nicht alle glaubten ihm das, zumal es hieß, der Zar sei gestürzt worden und das mit Unterstützung der Juden.

 Auch gab es Gerüchte, dass das deutsche Heer an der Westfront Schwierigkeiten hatte und uns den Osten allein überließ – und alleine, so viel hatten wir trotz Nachrichtensperre erfahren, waren wir zu schwach, um Russland zurückzuhalten.

 

 Für mich wie für die ganze Familie Hofstetter war es undenkbar, es mit den Deutschnationalen zu halten. Selbstverständlich stand ich treu zum Kaiser und wie ich auf den Ruf des alten[3] in den Krieg gezogen war, folgte ich dem Rückzugsruf des jungen. Ich hatte keine Meinung zum Kriegs-verlauf – zu groß war das Reich und zu viele Länder ringsum waren in den Krieg verwickelt. Da gab es Russland, das sich die slawischen Gebiete im Osten einverleiben wollte, Italien, das auf Triest, Istrien, Dalmatien und das Trientiner Land aus war, Rumänien, das sich über die Karpaten ausdehnen wollte, Serbien, das – weshalb der Krieg ja begonnen hatte – Bosnien und womöglich Kroatien annektieren wollte. Deutschland hatte zusätzlich mit Frankreich und England zu tun. Es blieb einem einfachen Menschen nichts anderes übrig als darauf zu vertrauen, dass der Kaiser wusste, was er tat.

 

Kommentar

 

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[1] Gavrilo Princip: serbischer Student, der 1914 in Sarajevo den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Gattin Sophie ermordete, worauf der Erste Weltkrieg ausbrach

[2] Welsche(r): Italiener(in) beleidigend, Anspielung auf die Herkunft von Kaiserin Zita, geborene Herzogin von Parma

[3] gemeint ist Franz Joseph I. (1830-1916, regiert 1848-1916)