oder: Man muss das Ende betrachten
Die „islamkritische“ sprich hetzerische Internetseite www.pi-news.net veröffentlichte heute folgenden Beitrag: Ach Mozart, um am Beispiel des Haremswächters Osmin das Wesen des „Musels“ einmal mehr zu verdeutlichen. Der genannte Beitrag schließt mit dem Satz „Ja, der wusste noch Bescheid und durfte sagen, was Sache ist“. Dankenswerterweise verlinkt die Seite den Link zum kompletten Libretto.
Auf eine Inhaltsangabe wird hier verzichtet. Leser, denen das Werk unbekannt ist, können das Original lesen. Eine recht gute Zusammenfassung auch des Hintergrundes gibt es außerdem hier. Zu kommentieren ist lediglich die Aussage, Selim sei aus seiner „aufgeklärt-westlichen Existenz“ vertrieben worden. Im Stück sagt Selim, er sei durch Belmontes Vater aus seiner Heimat vertrieben und um sein Vermögen gebracht worden (s.u.). Wenn man mit dem Wikipedia-Artikel von „Mitte 16. Jahrhundert“ als Handlungszeit ausgeht, könnte man sich unter Selim auch einen unter Philipp II. aus Spanien vertriebenen Mauren und unter Belmontes Vater einen Inquisitor vorstellen. Die Oper schweigt sich aus, wie Selim, der „alles verloren“ hatte, in der Fremde wieder zum Fürsten aufstieg.
Pi-news zitiert Mozart hier als Kronzeugen, der die Barbarei der Türken beschrieb. In der Tat ist der Haremswächter Osmin ein sadistischer Barbar, der durchaus dem Türkenklischee bei PI-News entspricht. Nun aber gehört es zu den Grundlagen jeder Beschäftigung mit Literatur, dass man ein Stück bis zum Ende lesen muss und dass dieses Ende entscheidend für die Einordnung des Stückes ist.
Wer würde etwa behaupten, die Evangelien lehrten, dass Jesu Leben sinnlos ist, weil er gekreuzigt wurde? Wer würde behaupten, im Märchen „Schneewittchen“ sei letztlich die böse Königin die Siegerin, weil Schneewittchen fliehen musste? Welcher Besucher der Salzburger Festspiele würde berichten, „Jedermann“ lehre Fatalismus und Reue sei nach Auffassung der Autoren nicht möglich, weil der Tod Jedermann verkündet, sein Ende sei beschlossen und er sei für die Hölle bestimmt? Wer würde behaupten, in „Harry Potter“ triumphiere das Böse, weil Voldemorts Rückkehr nicht verhindert werden kann?
Auch bei der „Entführung aus dem Serail“ sind die Schlüsselszenen am Ende zu finden: Den Gefangenen misslingt die Flucht. Ihnen droht der Tod, zumal ihr Anführer, Belmonte, als Sohn eines Erzfeindes des „Bassa“ erkannt wird:
SELIM (staunend)
Was hör' ich! Der Kommandant
von Oran, ist er dir bekannt?
BELMONTE
Das ist mein Vater.
SELIM
Dein Vater? Welcher
glückliche Tag! Den Sohn meines ärgsten
Feindes in meiner Macht zu
haben! Kann was angenehmeres sein?
Wisse, Elender! Dein Vater,
dieser Barbar ist schuld, dass ich mein
Vaterland verlassen musste.
Sein unbiegsamer Geiz entriss mir eine
Geliebte, die ich höher als
mein Leben schätzte.
Er brachte mich um
Ehrenstellen, Vermögen, um alles. Kurz, er
zernichtete mein ganzes
Glück. Und dieses Mannes einzigen Sohn
habe ich nun in meiner
Gewalt! Sage, er an meiner Stelle, was
würde er tun?
BELMONTE (ganz
niedergedrückt)
Mein Schicksal würde zu
beklagen sein.
SELIM
Das soll es auch sein. Wie
er mit mir verfahren ist, will ich mit dir
verfahren.
Folge mir, Osmin, ich will
dir Befehle zu ihren Martern geben.
(zu der Wache) Bewacht sie
hier.
Danach aber kommt es ganz anders:
SELIM
Nun, Sklave! Elender Sklave!
Zitterst du? Erwartest du dein Urteil?
BELMONTE
Ja, Bassa, mit so vieler
Kaltblütigkeit, als Hitze du es aussprechen
kannst.
Kühle deine Rache an mir,
tilge das Unrecht, so mein Vater dir
angetan; ich erwarte alles
und tadle dich nicht.
SELIM
Es muss also wohl deinem
Geschlechte ganz eigen sein,
Ungerechtigkeiten zu
begehen, weil du das für so ausgemacht
annimmst? Du betrügst dich.
Ich habe deinen Vater viel zu sehr
verabscheut, als dass ich je
in seine Fußstapfen treten könnte. Nimm
deine Freiheit, nimm
Konstanzen, segle in dein Vaterland, sage
deinem Vater, dass du in
meiner Gewalt warst, dass ich dich
freigelassen, um ihm sagen
zu können, es wäre ein weit größer
Vergnügen eine erlittene
Ungerechtigkeit durch Wohltaten zu
vergelten, als Laster mit
Lastern tilgen.
BELMONTE
Herr! Du setzest mich in
Erstaunen ...
SELIM (ihn verächtlich
ansehend)
Das glaub ich. Zieh damit
hin, und werde du wenigstens
menschlicher als dein Vater,
so ist meine Handlung belohnt.
KONSTANZE
Herr! vergib! Ich schätzte
bisher deine edle Seele, aber nun
bewundre ich ...
SELIM
Still! Ich wünsche für die
Falschheit, so Sie an mir begangen, dass
Sie es nie bereuen möchten,
mein Herz ausgeschlagen zu haben.
(im Begriff abzugehen)
(tritt ihm in den Weg und
fällt ihm zu Füßen.)
Herr! Dürfen wir beide
Unglückliche es auch wagen, um Gnade zu
flehen?
Ich war von Jugend auf ein
treuer Diener meines Herrn.
OSMIN
Herr, beim Allah, lass dich
ja nicht von dem verwünschten
Schmarotzer hintergehn!
Keine Gnade! Er hat schon hundertmal den
Tod verdient.
SELIM
Er mag ihn also in seinem
Vaterlande suchen.
(zur Wache) Man begleite
alle viere an das Schiff.
(gibt Belmonte ein Papier)
Hier ist euer Passport.
OSMIN
Wie! Meine Blonde soll er
auch mitnehmen?
SELIM (scherzhaft)
Alter, sind dir deine Augen
nicht lieb? Ich sorge besser für dich als du
denkst.
Und ganz am Ende singen die Befreiten:
KONSTANZE, BELMONTE, BLONDE,
PEDRILLO
Nichts ist so hässlich als
die Rache;
Hingegen menschlich, gütig
sein,
Und ohne Eigennutz verzeihn.
Ist nur der großen Seelen
Sache!
Wer dieses nicht erkennen
kann,
Den seh' man mit Verachtung
an.
CHOR DER JANITSCHAREN
Bassa Selim lebe lange!
Ehre sei sein Eigentum!
Seine holde Scheitel prange
Voll von Jubel, voll von
Ruhm.
Wer daraus ein türkenfeindliches Stück macht, hat ebenso wenig verstanden, wie derjenige, der „Harry Potter“ oder „Huckleberry Finn“ für rassistisch hält. Die Quintessenz ist: Nicht der Sieg über die Türken, sondern die Gnade Selims, ist letztlich entscheidend für den guten Ausgang des Stücks. Die Janitscharen, gefürchtete Streitmacht der Türken, lobt ihn dafür.
Das Lob des „ohne Eigennutz verzeihn“ ist die Aussage eines, wie man will, aufgeklärten Christen oder Freimaurers, der sein Christentum nie aufgegeben hat, nicht aber die eines Türkenfeindes. Wenn man aus dem Stück eine Lehre ziehen will, dann die, dass Menschen verzeihen und auf Rache verzichten sollen. Dies ist eine Lehre des Christentums, die im Islam keine Parallele findet. Wer aber ein islamfeindliches Stück suchen will, muss anderswo suchen.