Der gelenkte Mensch oder: George Orwell heute verstehen

 Wenn in der heutigen Diskussion von George Orwell die Rede ist, so geht es meist in erster Linie um sein bekanntes Werk „1984“ beziehungsweise um die Angst vor den Möglichkeiten, die eine totalitäre Diktatur hat, das Denken der Menschen völlig zu kontrollieren. Jeder Schritt, jedes Wort kann theoretisch überwacht und aufgezeichnet werden.

 So wenig man bestreiten kann, dass die technischen Möglichkeiten heute weit über das hinausgehen, was Orwell sich im Jahr 1948 vorstellen konnte, so wenig kann man die heutigen politischen Zustände mit denen im Ozeanien des Jahres 1984 vergleichen: Es ist kein Problem, Nahrungsmittel und Geräte des täglichen Lebens zu bekommen. Wir genießen Reisefreiheit wie nie zuvor. Wir wissen, wer uns regiert und können die Biographien dieser Personen nachprüfen. Wir wissen auch, wo es Kriegs- und Krisenherde gibt. Niemand muss befürchten, ins Gefängnis zu kommen oder gefoltert zu werden, weil er verliebt ist oder weil er Bücher besitzt, in denen die Regierung kritisiert wird.

 Können wir also aufatmen und Orwells düstere Vorahnungen als ebenso unrealistisch sehen wie die Gefahr, von Lord Voldemort ermordet zu werden oder Zombies zum Opfer zu fallen? Mit Sicherheit übertrieb Orwell, mit Sicherheit spielte die Enttäuschung eines einst überzeugten Kommunisten nach der Begegnung mit dem real existierenden Sozialismus eine Rolle in seinem Denken und Schreiben. Worum es ihm allerdings ging, erklärt er im Nachwort zu seiner „Farm der Tiere“, einem Buch, dem ebenso wie dem „Kleinen Prinzen“ das Schicksal beschieden sein sollte, fälschlich als Kinderbuch eingeordnet zu werden. Diese Gedanken scheinen mir heute so aktuell wie damals.

Zensur durch „Öffentliche Meinung“

 Orwell schreibt: „Doch die Hauptgefahr für Gedanken- und Redefreiheit geht nicht vom MOI (Ministery of Information) oder sonst einer Behörde aus. Wenn sich Verleger und Herausgeber bemühen, bestimmte Themen ungedruckt zu lassen, dann nicht aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung, sondern aus Angst vor der Öffentlichen Meinung. (…) Der dunkle Punkt der literarischen Zensur in England ist, dass sie heute weitgehend freiwillig geschieht.“ (S. 122)[1].

Der Autor nennt Beispiele: „Die derzeit herrschende Orthodoxie verlangt die unkritische Bewunderung Sowjet-Rußlands. Jeder weiß das, fast jeder handelt danach. Jede ernsthafte Kritik am Sowjet-Regime, jede Enthüllung von Tatsachen, die die Sowjet-Regierung lieber weiterhin verborgen sähe, ist nahezu undruckbar.(…)
Kaum einer wird es wagen, eine Attacke gegen Stalin zu drucken, aber Churchill zu attackieren ist recht risikolos, jedenfalls in Büchern und Magazinen.“
(S. 123)

 So sind auch Orwells Motive sowohl in „Farm der Tiere“ als auch in „1984“ erklärbar. Sowohl die Tiere auf der Farm als auch die Menschen in „1984“ reden sich mit „Genosse“ an, die offizielle Propaganda betont den Gegensatz zu den Zuständen vor der Revolution und die Güter sind offiziell Eigentum des Staates, wobei jedoch nur eine kleine Gruppe (Schweine bzw. Mitglieder der „Inneren Partei“) daraus Nutzen zieht.

Die Gefahr eines zeitbezogenen Missverständnisses

Als ich selbst als Schüler in den 80er-Jahren die „Farm der Tiere“ im Unterricht las, war mir die eigentliche Bedeutung nicht völlig klar. Zwar existierte die Sowjetunion noch und der damalige Staatschef Gorbatschow genoss in Deutschland einen guten Ruf, doch dass Stalin ein Verbrecher und auch seine Nachfolger brutale Diktatoren waren, war damals in der BRD ebenso Konsens wie heute im vereinigten Deutschland. Selbst in sehr linken Milieus fand sich kaum mehr ein Verteidiger Stalins, Breschnews oder Honeckers. Heute könnte man sagen, dass der (orthodoxe) Kommunismus keine Gefahr mehr darstellt.

 In der Tat ist es, Gott sei Dank, kaum denkbar, dass eine Partei, die sich auf Stalin oder die DDR beruft, mehrheitsfähig würde – so dumm und gefährlich die DDR-Nostalgie etwa der Jungen Welt ist, sie bleibt glück-licherweise Traum einiger Unbelehrbarer, ebenso wie es lange Menschen gab, die Hitler nachweinten, diese aber nie ernsthaft die BRD als Staat gefährdeten.

 Orwell selbst sah diese Gefahr: „Soviel ich weiß, kann bei Erscheinen dieses Buches meine Einschätzung des Sowjet-Regimes die allgemein anerkannte sein. Doch was würde das nützen? Eine Orthodoxie durch eine andere zu ersetzen ist nicht unbedingt ein Fortschritt. Der Feind ist stets die Grammophon-Mentalität, gleichgültig ob einem die Platte, die gerade gespielt wird, nun paßt oder nicht.“ (S.131)

 Nur zu wahr und jeder, ob liberal, konservativ, sozialistisch oder sonst irgendwie politisch gesinnt, ist in der Gefahr, dies bei seinen eigenen Anhängern zu übersehen. Doch so wie man auch von einem glühenden Patrioten erwarten muss, Hitler abzulehnen, so sollte man das auch von einem Sozialisten gegenüber Stalin und seinen Getreuen, von einem Katholiken gegenüber Franco und von einem Wirtschaftsliberalen gegenüber Pinochet erwarten.

Wo sind die Denkverbote heute?

 Glücklicherweise leben wir heute nicht in einer Diktatur und besteht zwischen allen Parteien ein Konsens, dass dies gut und richtig ist. Dies haben wir mit Großbritannien zur Zeit Orwells gemeinsam: So wie man damals Winston Churchill kritisieren konnte, kann man heute Angela Merkel heftig attackieren und so wie dort Churchill, der Sieger über Hitler, 1946 abgewählt wurde, geschah es hier mit dem Kanzler der Einheit Helmut Kohl 1998. Hier wie dort wurde ein Regierungschef trotz unbestrittener Verdienste nicht mehr gewählt, weil ihn das Volk mehrheitlich nicht mehr wollte. Wie immer man dazu steht: So funktioniert Demokratie. Ebenso wenig Zweifel besteht, dass, wenn eines Tages nicht mehr Angela Merkel auf dem Kanzlerstuhl sitzen wird, dazu kein Krieg und keine Revolution oder sonstiges Blutvergießen nötig sein wird.

 Dennoch gibt es Denkverbote, es gibt Thesen, die ohne Beweis von allen geglaubt werden oder deren Gegner kaltgestellt werden. Bis zum 11. September 2001 galt es als erwiesen, dass der Islam im Grunde gewaltfrei und dass eine multikulturelle Gesellschaft nur eine Frage gegenseitiger Toleranz sei. Wer auf bestehende Probleme und Unterschiede zwischen Einwanderern und Mehrheitsgesellschaft hinwies geriet schnell in den Verdacht des Rassismus.

 Von den 90er-Jahren bis zum Börsencrash 2007 galt ebenso als unantastbar, dass die Wirtschaft möglichst frei von staatlichen Regularien agieren müsse. Wer etwa staatliche Kontrolle der Banken forderte, wer es für nicht möglich hielt, dass Unternehmen über Jahrzehnte einen zweistelligen Gewinn pro Quartal erreichten, galt schnell als Ewiggestriger oder Sozialromantiker.

 Dies ist vorbei. Heute kann man selbst in eher linken Zeitungen islamkritische Beiträge und selbst in wirtschaftsliberalen Magazinen die Forderung nach Begrenzung von Managergehältern oder strengerer Bankenaufsicht lesen. Dennoch tauchen neue Tabus auf.

 Solche Beispiele sind heute Gender Mainstreaming und die Kinderkrippenfrage. Niemand bezweifelt ernsthaft die Berechtigung von Kinderkrippen. Warum jedoch sollen 150 Euro für eine Familie, die ihre Kinder zu Hause betreuen will, weniger sinnvoll angelegt sein als das Zehnfache für eine Kinderkrippenbetreuung? Von „Herdprämie“ ist die Rede und Frauen, die dies befürworten, werden im günstigsten Fall als ewiggestrig belächelt, im weniger günstigen – wie Eva Herman – mit den Nazis in Verbindung gebracht.

 Es wäre genauso unsinnig, Eva Herman über jede Kritik erhaben zu machen. Ihr eigenes Leben steht diametral im Gegensatz zu ihren Forderungen; sie hat sich außerdem sehr ungeschickt verhalten. Dies zu kritisieren und ihr zu widersprechen ist Kennzeichen einer Demokratie. Mit den Nazis hatte sie jedoch, wie jeder halbwegs objektive Beobachter wird zugeben müssen, nichts zu tun.

 Ähnlich ist es mit der Quotenregelung. Gewiss: Es ist für Frauen nach wie vor schwerer, ins Management aufzusteigen. Es gibt in technischen Berufen einen deutlichen Männer-, in pädagogischen einen ebenso deutlichen Frauenüberschuss. Dies liegt, so hört man, an der Unterbezahlung sozialer Berufe.

 Diese ist gewiss gegeben, doch auch Bauarbeiter oder Kraftfahrer sind keine Spitzenverdiener – und dort wiederum sieht man fast nur Männer. Umgekehrt gibt es an medizinischen Fakultäten mittlerweile einen Frauenüberschuss - und Ärzte mögen zwar überwiegend keine Spitzenverdiener mehr sein, haben im Allgemeinen aber immer noch ein Einkommen deutlich über dem Durchschnitt der Bevölkerung.
Bestimmte Berufe gelten als „weiblich“ oder „männlich“, so hört man und es gilt als ausgemacht, dass dies nur an der Erziehung liegt.

 Zweifellos: Mädchen wurden und werden anders erzogen als Jungen, doch warum hat sich trotz aller Emanzipation nichts an Neigungen geändert? Warum sieht man heute deutlich mehr Mädchen, die sich schminken und in grellen Farben kleiden als früher? Die Mädchen auf Schulfotos der 70er und 80er Jahre, mit anderen Worten die Mütter der Jugendlichen heute, erscheinen wie halbe Jungen in ihren Blue Jeans, weiten Pullovern und Turnschuhen, selten stark geschminkt, fast nie mit Kleidung, die Busen und Taille besonders betont.

 Damals, als Frauen an der Spitze von Unternehmen, ja sogar von weiterführenden Schulen die große Ausnahme waren, mussten Mädchen zeigen, dass sie sich gegen Jungen durchsetzen konnten. Heute dürfen sie Mädchen sein: Sie haben im Schnitt die besseren Noten als ihre männlichen Schulkollegen, nur wenige bestreiten, dass Frauen Auto fahren oder mit technischen Geräten umgehen können. Ärztinnen, Lehrerinnen, Schulleiterinnen, Ministerinnen oder sogar eine Bundeskanzlerin sind selbstverständlich. Es ist nicht mehr ungewöhnlich, dass ein Mädchen auf Bäume klettert oder Fußball spielt.

 Spielzeug und Mode sind dagegen unbestritten wieder geschlechtsspezifischer geworden. Wenn etwa ein Religionsbuch der frühen 80er-Jahre davon spricht, bei manchen jugendlichen Paaren müsse man raten, wer der Junge und wer das Mädchen sei, so scheint das fast ebenso aus einer fremden Zeit zu stammen wie wenn man hört, dass in den 50er Jahren der Deutsche Fußballbund Vereine, die Frauen auf ihren Plätzen spielen ließen, ausschloss.

 Warum aber ist das so? Spielt hier wirklich der Chauvinismus der Hersteller die entscheidende Rolle? Könnte es nicht vielmehr sein, dass Firmen das produzieren, was gekauft wird? Kann es sein, dass Mädchen andere Interessen haben als Jungen?

 Ich habe nicht die Möglichkeit, Unterschiede zwischen den Geschlechtern auf einem Niveau zu untersuchen, das auch nur annähernd wissenschaftlichen Anspruch erheben könnte. Nur: Die Frage, ob Unterschiede angeboren sind, muss gestellt werden können, ohne dass dem Fragesteller der Ruf „Reaktionär!“, „Faschist!“ oder Ähnliches entgegenschallt.

 Um eines klarzustellen: Wenn eine Frau die Fähigkeit, Ingenieurwissenschaften zu studieren und zugleich Interesse am Fach hat, soll sie es tun. Noch mehr gilt das bei Männern in sozialen und pädagogischen Berufen: Während ein Mann und eine Frau eine Maschine nach den gleichen physikalischen Gesetzen konstruieren müssen, damit sie funktioniert, besteht ein Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Rollenbildern und gerade angesichts vieler auseinanderbrechender Familien braucht es beides.

 Quotenregelungen sind dagegen unsinnig, solange nicht sicher feststeht, dass Mädchen und Jungen unter den gleichen Bedingungen die gleichen Neigungen entwickeln.

Political Incorrectness: Der Ausweg?

 Beinahe seit es den Begriff der Political Correctness gibt, d.h. seit man grundsätzlich die weibliche Endung verwendet, wenn man nicht nur von Männern spricht, seit man nicht mehr „Neger“, sondern „Schwarzafrikaner“ sagt, gibt es auch die Gegenbewegung, die Political Incorrectness, also den bewussten Tabubruch, eine Art Gegen-68er-Bewegung. Ist diese der richtige Weg?

 Ich meine, trotz dem vorher Gesagten, nein. Dies möchte ich zunächst an einem Witz erklären, der wohl noch aus der Zeit stammt, als die Konservativen Mainstream waren:

 Eine Punkerin kauft Kleidung. Nachdem sie bezahlt hat, fragt sie: „Darf ich die Klamotten umtauschen, falls sie meiner Mutter gefallen sollten?“

 Das Mädchen verhält sich im Grunde wie ihre brave Klassenkameradin, die jedes Mal die Eltern fragt, ob sie sich etwas Bestimmtes kaufen darf: Für ihre Entscheidung ist der Geschmack der Mutter maßgeblich, nicht ihr eigener.

 So natürlich es sowohl ist, dass für Kinder im Grundschulalter die Eltern die absolute Autorität sind, als auch, dass Jugendliche mit aller Gewalt anders sein wollen als die Eltern, so tragisch ist, wenn Erwachsene mit 30, 40 oder gar 50 Jahren ihre Entscheidungen immer noch von ihren Eltern abhängig machen. Was soll man von einem Familienvater halten, der seinen Kleidungs- oder Musikgeschmack, die Einrichtung seiner Wohnung, sein Wahlverhalten in der Politik oder die Erziehung seiner Kinder davon abhängig macht, ob seine Eltern dies für richtig halten? Psychologen würden zurecht von einem Ödipuskomplex sprechen.

 Was für das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern gilt, gilt ebenso für das Verhältnis zum Staat und zur Gesellschaft: Es ist nötig, Entwicklungen kritisch zu hinterfragen und Denkverbote zu bekämpfen. Dagegen zu sein  nur um des Dagegenseins willen ist allerdings unsinnig. Wenn heute die Gesellschaft mehrheitlich Rassismus oder Antisemitismus  ablehnt, so ist das ohne Wenn und Aber zu begrüßen. Auch bei problematischen Entwicklungen gilt nicht, dass notwendigerweise das Gegenteil richtig ist. Wenn ein Harald Eia das Gender Mainstreaming kritisiert, verdient das Anerkennung – und er erreichte im liberalen Norwegen einiges. Die Reaktion kann dagegen nicht sein, dass die Frau in die Küche gehört, was besagter Harald Eia auch ablehnt.
 Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom, doch ständiges Gegen-den-Strom-Schwimmen überfordert und führt einen Fisch auch nicht zum Ziel, sondern ins Quellengebiet, wo er wenig Nahrung findet und irgendwann die Strömung zu stark wird.

 

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[1] Die Seitenangaben beziehen sich auf folgende Ausgabe: Orwell, George: Farm der Tiere, übersetzt von Michael Walter; mit einem neuentdeckten Nachwort des Autors. – Zürich, Diogenes, 1982.