Der Reiher, der gerade auf sein Nest zusteuerte, schrak auf und flog wieder auf. Kaum zwei Meter vom Nest entfernt hockte zusammengekauert ein junger Mann, der noch mehr erschrocken schien als der Vogel. Nicht darüber, dass es hier Reiher gab und auch nicht, dass diese mit ihren Schnäbeln durchaus Menschen ernsthaft verletzen konnte – seit er laufen konnte, kannte er die Tiere des Schilfs und ebenso wusste er, dass man nur ein bisschen Lärm machen musste, etwa laut bellen wie ein Hund, um solche Vögel zu verscheuchen.

 Der Reiher hatte gesehen, dass jemand im Schilf war und jeder, der den Reiher auffliegen gesehen hatte und Wasservögel kannte, das hieß jeder, der am Seeufer lebte, konnte das Verhalten des Vogels deuten.

 Freilich gab es gelegentlich spielende Kinder im Schilf, doch falls die Sicherheitsdienste ihn suchten, konnten sie dies ausschließen, indem sie einfach warteten: Kinder blieben selten den ganzen Tag im Schilf – der Hunger und die Angst vor Ohrfeigen trieben sie stets zeitig an die Tische ihrer Eltern.

 

 Er musste unauffällig seinen Standort ändern, ehe jemand auf die Idee kam, nach ihm zu suchen. Er hätte sich pausenlos ohrfeigen können für diese eine Dummheit, die sein Leben verändert hatte. Eine Mutprobe, die ihn, einen einfachen Bauernburschen wie viele andere, zum Besitzer von stolzen 50 Kronen, aber auch zum Gejagten machte. Statt wie sonst tagsüber das Feld zu bestellen, die Tiere zu versorgen, Mist wegzubringen und Scheunen oder Geräte zu reparieren, wenn das nötig war, abends heißhungrig das Essen in sich hinein zu stopfen und bald darauf hundemüde ins Bett zu fallen und die wenigen Heller, die man hatte, am Samstagabend für ein Bier oder einen gespritzten Wein auszugeben, verbrachte er Tag und Nacht im kilometerbreiten, dichten Schilfgürtel des Sees und dem nicht minder undurchdringlichen Auwald, der sich daran anschloss. Seine Mahlzeiten bestanden aus Vogeleiern, Fröschen, essbaren Kräutern und was sich sonst noch in dieser Landschaft finden ließ. Zwar war sein Beutel voll mit jenen silbernen Münzen mit dem Gesicht des Kaisers, die sonst Reichtum bedeuteten, doch Silber war eben nicht essbar und hier konnte man kein Geld ausgeben – und dorthin, wo Geld etwas wert war, konnte er nicht mehr gehen.

 

 Durch das Schilf spähte er auf den See hinaus. Enten schwammen in der Nähe, Reiher, Störche und Möwen überflogen Schilf und See auf der Suche nach Beute. Hoch über dem anderen Ufer leuchteten die Türme des Nikolausklosters in der Sonne.

 In längst vergangenen, fern scheinenden Zeiten, als er noch ein kleiner Junge war, hatte der Vater ihn mitgenommen in jenes prächtige Kloster und die Stadt, die sich darum entwickelt hatte. Wie andere Bauern hatte der Vater dort Gemüse, gelegentlich auch ein Schwein oder ein Rind, verkauft und dafür Kleidung, Werkzeuge, Gewürze, vor Weihnachten oder deren Namenstagen auch Schmuck für die Mutter und die Schwestern gekauft, Dinge eben, die weder er selbst noch der Dorfschmied herstellen konnte. Nur ein halbstündiger Ritt, wenn man schweres Gepäck hatte eine anderthalbstündige Ochsenwagenfahrt und eine knapp einstündige Bahnfahrt um den See oder eine eben so lange Bootsfahrt über denselben trennte das Dorf von der Stadt, in der einst der Rentmeister des Klosters und später der kaiserliche Gouverneur über die Bauern rings um den See regiert hatte.

 Dass in der Stadt nicht seine Sprache gesprochen wurde, hatte den Vater ebenso wenig gestört wie die Kinder – im Dorf hatten über ein Drittel der Menschen, darunter auch die Großmutter des jungen Mannes im Schilf, die Sprache der Menschen in der Stadt als Muttersprache; umgekehrt verhielt es sich ebenso. Er, seine Eltern und Geschwister hatten ebenso wenig Probleme, sich in der Stadt zu verständigen wie diese am Westufer.

 

 Das alles war vorbei und im Schloss des Kaisers saß nicht mehr er, der ‚Vater der Völker‘ sondern der ‚Führer‘ und ‚Retter der Nation‘, der Mann, der verkündete, die Leute drüben in der Stadt seien wilde Tiere und ihr Land den einzig wahren Menschen, denen, die am Westufer oder in den fernen Bergen lebten, bestimmt.

 

 Zur Kaiserstadt waren es, seit es die Eisenbahn gab, nur etwa zwei bis drei Stunden Fahrzeit und manchmal kamen die feinen Damen und Herren von dort an den See, suchten Plätze zum Schwimmen oder Angeln, wanderten im Auwald herum oder ließen sich mit dem Ruderboot hinüber zum Nikolauskloster fahren. Manchmal, und in den letzten Jahren immer häufiger, fuhren auch Burschen, die weder ihren Hof erbten noch reich heiraten noch in der Stadt, die wie das Kloster St. Nikolaus hieß, auskömmliche Arbeit fanden, dorthin, doch selten fanden sie dort ihr Glück: Zimmer waren dort unvorstellbar teuer und Arbeit schlecht bezahlt.

 

 Georg, so hieß der junge Mann im Schilf, hatte bisher Glück gehabt: Der Besitz seines Vaters war groß genug, um schlimmstenfalls sogar zwei Familien zu ernähren, selbst wenn der kleine Stephan nirgends einheiraten können würde. Hans, der mittlere Bruder, war vom Pfarrer für das Knaben- und später für das Priesterseminar empfohlen worden. Die ganze Familie war stolz und hatte ihn mitfinanziert und nächstes Jahr würde er geweiht werden, um dann als Kooperator und noch später als Pfarrer zu wirken. Wenn Georg und danach seine jüngere Schwester Fini heiraten würden, würde Hans zumindest levitieren; das hatte der Pfarrer versprochen.

 

 Das alles schien nun unendlich weit, so weit wie die Wabrosch Sofie, die im übernächsten Dorf wohnte, dessen Kirchturm von hier aus kaum sichtbar aus dem Auwald hervorspitzte. Aus irgendeinem Grund besaßen deren Eltern eine Weide in der Nähe von Georgs Dorf; aus irgendeinem Grund hatte es sich getroffen, dass der alte Wabrosch vor zwei Jahren ausgerechnet Sofie schickte, um die Schafe zu hüten und gemeinsam mit ihrem Bruder Andre sie zu scheren. Aus irgendeinem Grund gehörte das Feld daneben Georgs Vater und aus irgendeinem Grund war Georg an einem heißen Sommertag gerade dabei gewesen, die Bewässerungs-kanäle auszubessern, als auf der Weide der Wabroschs ein Schaf ausbrach und Andre ihm nachlaufen musste, weshalb Sofie allein auf der Weide zurückblieb – und aus einem Grund, den niemand genau verstand, hatten Georg und Sofie sofort jede Beherrschung verloren, als sie einander erblickten.

 

 Ab diesem Moment überließen sie nichts mehr dem Zufall: Georg arbeitete, wann immer es ging, auf dem Feld neben der Weide der Wabroschs und Sofie hütete, wann immer es ging, die Schafe neben dem Feld von Georgs Eltern. Sie tanzten miteinander auf allen Dorffesten und im Frühjahr dieses Jahres schließlich hatte Georg seinen ganzen Mut zusammen-genommen, den Wagen angespannt, war in Sofies Dorf gefahren und hatte beim alten Wabrosch um ihre Hand angehalten.

 

 Damals hatten sich schon die dunklen Wolken abgezeichnet, die trotz dem schönen Sommertag über dem Land hingen: Neben den üblichen Fragen, ob Georg denn kein Mädchen im eigenen Dorf gefunden hatte, waren neue Töne erklungen: Sofie wurde Asiatin, Schlitzauge oder gar Negerin genannt. Ja, ihr Haar war dunkler als das Georgs und seiner Geschwister, doch in seinem Dorf fiel sie äußerlich nicht auf und auch sonst nicht. Sie sprach akzentfrei seine Sprache und auch den Dialekt der Bauern und Winzer vom See, ihre Eltern und Geschwister ebenso. Wenn Georg und Sofie sich gegenseitig besuchten, wurde die Sprache der jeweiligen Gastgeberfamilie gesprochen, doch gleich ob sie Georg und Sofie oder Zsofia und György genannt wurden, sie liebten sich und das zählte. Kühe und Schafe hüten, Schafe scheren, Kühe melken, Reiten, säen und ernten und Weinreben pflegen ging nicht anders im übernächsten Dorf und ohne Diskussion war klar, dass die Kinder, die sie einmal haben würden, ihre Mutter- und Vatersprache gleich gut erlernen würden, so wie alle Tätigkeiten des bäuerlichen Lebens.

 

 Die Veränderungen, die fast zeitgleich mit ihrer Verlobung gekommen waren, hatten sie beide kaum bemerkt: Georg war zwar im Namen des Kaisers zu den Waffen gerufen worden, doch hatte seine Kompanie noch gar nicht die Kampflinie erreicht, als der Kaiser schon geflohen war. Die nationale Revolution hatte gesiegt und in Rathäusern, Polizeistationen, Schulen und Wirtshäusern hing nun das Bild des Führers und Retters der Nation.

 

 Die Bilder dort hatten schon einige Male gewechselt, doch so wie stets auf den alten Kaiser ein jüngerer, angetan mit der gleichen blütenweißen Paradeuniform und der gleichen Schärpe, gefolgt war, war auch das Leben stets weitergegangen: Man hatte die Felder bestellt, das Vieh zur Weide getrieben, geerntet, Korn, Fleisch und Wein verkauft und Tuch und Werkzeug gekauft, die Kinder gingen zur Schule, wo ebenfalls das Kaiserbild hing, das man abzuhängen hatte, wenn man vor den Kameraden etwas gelten wollte; vom Lehrer gab es zwei Ohrfeigen, wenn man sich erwischen ließ, doch die waren Eintrittskarte in jede Kinderbande.

 Die Kinder wuchsen, beendeten die Schule, machten vielleicht eine Lehre, die Burschen mussten zum Militär, man verliebte sich oder auch nicht, heiratete aus Liebe oder Berechnung, übernahm den Hof des Vaters oder Schwiegervaters, hatte selbst Kinder und musste sauer sein und dem Sohn vielleicht eine zusätzliche Ohrfeige zu geben, wenn er das Kaiserbild abgehängt oder sonstigen Unsinn getrieben hatte, doch am Abend beim Bier erzählte man anderen Vätern von den eigenen Streichen.

 Ins Nikolauskloster und die zugehörige Stadt fuhr man mehrmals im Jahr und dass man dort nicht St. Nikolaus sondern Szent Miklos sagte, nahm man ebenso zur Kenntnis wie dass der Kirchturm des Nachbardorfes eine Zwiebel anstatt einer Spitze hatte.

 

 So war das Leben gewesen, bis vor wenigen Monaten. Dann hatten Soldaten einen Grenzzaun errichtet und das Kloster und Sofies Dorf lagen plötzlich im Ausland. Georg wusste nicht einmal, ob jemand anderer sie gefreit hatte, denn nicht einmal Post wurde über die Grenze gebracht.

 Die Freunde hatten Georg zugeredet, es gebe doch noch viele andere hübsche und noch unverheiratete Mädchen, doch er wollte nur Sofie. Statt Mädchen liebte er immer mehr den Trunk, was Eltern und Freunden Sorge machte.

 Betrunken waren sie auch gewesen an jenem verhängnisvollen Tag, der aus dem jungen Bauernsohn Georg den Flüchtling gemacht hatte: Mit seinen Freunden hatte er gewettet, dass er sich trauen würde, das Bild des Führers und Retters der Nation abzuhängen wie einst das Kaiserbild in der Schule. Fünf von ihnen hatten ein jeder zehn Kronen geboten, gutes Geld: Für eine Krone fünfzig bekam man einen Krug Bier; fünf Kronen hatte einst die Überfahrt über den See zum Kloster gekostet und für ungefähr sechs Kronen gab es im Wirtshaus ein Fleischgericht.

 Georg hatte es gewagt und zusätzlich hatte er noch ein Spottlied auf die Melodie des Liedes der Anhänger des ‚Führers und Retters‘ gesungen, wofür sie ihm zusätzlich zu den fünfzig Kronen noch die Zeche gezahlt hatten.

 

 Leider gaben sich diejenigen, die das Ansehen der neuen Machthaber verteidigten, nicht mit zwei Ohrfeigen zufrieden wie einst der Volksschullehrer.

 Mitten in der Nacht hatte ihn Franz, der Gendarm, geweckt: „Schorsch, sie suchen dich überall! Irgendwer hat dich angezeigt und ich müsst‘ dich verhaften. Schau, dass d‘ dich verstecken kannst und irgendwann über die Grenze, dass d‘ mir das ersparst!“

 Sich verstecken hatte er einige Tage können, doch die Grenze zu überschreiten war nicht so einfach: Weder das Boot noch die Eisenbahn fuhr und zum Schwimmen war der See zu breit zumal Patrouillenboote unterwegs waren: Die Machthaber am Westufer wollten verhindern, dass ihre Gegner flohen und die am Ostufer konnten keine Flüchtlinge brauchen.

 

 Georg erschrak noch mehr, als er das Schilf rascheln hörte. Er horchte genauer: Das war kein Tier, sondern ein Mensch, der genau auf ihn zu kam; einer, der sich auskannte noch dazu, denn er leistete sich keinen Fehltritt. Georg zögerte: Bleiben konnte genauso falsch sein wie Fliehen.

 „Schau her, unser Schorsch!“, rief die Stimme halblaut.

 Franz!

 „Was willst lieber? Soll ich dich mitnehmen und sagen, ich hab den Kerl, der den Führer lächerlich gemacht hat oder willst helfen und dir noch hundert Kronen verdienen?“

 „Bei was?“

 „Ich brauch einen, der eine kleine Wallfahrt zum Nikkolo macht.“

 „Wie? Und wie soll ich da rüber?“

 Franz schwieg und horchte. Auch er war Sohn des Seeufers und kannte jedes Geräusch im Schilf.

 „Du kannst deine Sofie wieder sehen, wenn’st ja sagst.“

 „Aber wie soll ich das machen?“

 „Würdest mitmachen, wenn das Boot da wär und die hundert Kronen auch und die Wache hier herüben still hält?“

 „Sag schon: Was willst von mir? Und woher weißt, was die Wache macht?“

 „Ich kenn die Leut. Wir haben miteinander gelernt. Und wir haben auf den Kaiser geschworen und auf die Freundschaft der Völker, nicht auf den Krieg. Also, was ist?“

 „Was soll ich für dich rüberbringen?“

 „Ich sehe, du verstehst. Hier im Schilf, irgendwo, wo nicht einmal du sie findest, hat’s eine Familie, reiche Juden aus der Stadt. Sie wollen lieber drüben weiterleben als hängen und sie haben dem, der sie rüberbringt, viel Geld versprochen. Das Boot hab ich gekauft, von ihrem Geld. Bring die Herrschaften rüber, bevor die Grenzwache drüben was merkt und du hast hundert Kronen.“ Er zog seinen Geldbeutel aus der Tasche. „Tu’s nicht und du verfaulst hier im Schilf!“ Er nahm den Geldbeutel in die linke Hand und legte die rechte an seine Dienstpistole. Bei aller Freundschaft, ich hab dir schon zu viel erzählt als dass ich selber die Wahl hätt‘.“

 „Da hab ich wohl keine Wahl!“

 „Braver Bub! Grüß mir die Sofie wenn’st drüben bist und zünd in der Klosterkirche ein paar Kerzen für mich an. – Und pass auf! Die Grenzwache hier kann ich ablenken, die drüben nicht.“

 

 Georg dachte kurz nach: Franz sah aus als ob er ernst machen würde. Der Grenzwache könnte er entkommen, Franz, wenn dieser schoss, nicht. Und egal, was drüben wartete, es würde besser sein als das im Schilf, und wenn er sich dem Kloster als Hilfsarbeiter andienen musste oder einem Bauern.

 Er hoffte, dass Sofie die Zeit durchhalten würde, bis er zu den 150 Kronen noch weitere Reichtümer gebracht hätte – vorher würde der alte Wabrosch sie ihm nicht überlassen.

 Das mit den Juden verstand er nicht. Der Arzt in einem der Nachbardörfer war Jude; ein Händler in St. Nikolaus ebenso: Der Händler trug einen Bart und die Haare am Gesichtsrand lang, ganz ungewöhnlich, und samstags hatte sein Geschäft geschlossen.

 Ja, es hieß, die Juden hätten Jesus Christus ermordet, aber der Pfarrer sagte selbst, das war damals gewesen, die Juden heute hätten nichts damit zu tun; der Ururenkel eines Räubers könne doch ein anständiger Mensch sein.

 Was die neuen Machthaber gegen die Juden hatten, hatte Georg nie verstanden, so wie vieles nicht, was die Politik anging, doch so oder so: Er würde weiterleben, nicht als Sohn eines halbwegs reichen Bauern, aber wer fleißig und geschickt war konnte es auch drüben zu etwas bringen und irgendwann, wenn Gott wollte, würde er den alten Wabrosch an die Verlobung erinnern und Sofie und er würden ihre Familie eben am Ostufer gründen, am Fuß des Klosters, doch das Leben würde das gleiche sein und irgendwann würde der ‚Führer und Retter der Nation‘ verschwinden und statt seiner der Kronprinz in weißer statt dunkler Uniform und mit Schärpe von den Wänden der Rathäuser, Amtsstuben, Wirtshäuser und Schulen herunterschauen, als Kaiser regieren und die Menschen am See wieder gemeinsam die Heiligenfeste begehen. Führer mussten ebenso kommen und gehen wie Kaiser.

 

 „Ich mach’s! Und danke dir!“

 „Gott sei mit euch! Und den ‚Führer‘ soll der Teufel holen, bevor der mich hängen lassen kann – und wenn nicht, dann vergiss nicht, Seelenmessen für mich zu bestellen, drüben im Kloster!“

 „Nein! Dich werd ich nie vergessen. Und du wirst mir immer willkommen sein, hier oder drüben.“

 „Gut. Ich bring dich zu unseren Kunden und sobald es finster und die Grenzwache drüben am anderen Ende des Sees ist, sag ich dir Bescheid.“