Was denkt eine Denkfabrik?

Sie denkt dass bis 2040 Polen Deutschland überholt.

 

 ...denn in Polen ist das Wirtschaftswachstum um zwei Prozentpunkte höher als in Deutschland.

 

 So funktioniert das Rechnen mit Funktionen in der Mathematik. Dabei geht man davon aus, dass eine Funktion sich eindeutig durch eine Gleichung beschreiben lässt. So kann man leicht rechnen, wann ein Land mit einem Bruttoinlandsprodukt von 10 000 € pro Kopf und einem jährlichen Wirtschaftswachstum von vier Prozent eines mit einem BSP von 30 000 € pro Kopf, aber nur zwei Prozent Wachstum, überholt.

 

 Soweit, so gut. Nun informiert jeder vernünftige Mathematiklehrer irgendwann seine Schüler, dass der Unterschied zwischen Mathematik und Naturwissenschaften der ist, dass Mathematik eine Theorie ist. In dieser Theorie kann man mit unendlich vielen Dimensionen rechnen, eine komplexe Zahl unendlich genau bestimmen usw. usf.

 Die Naturwissenschaft benötigt die Mathematik so wie die Literatur die Sprache, aber sie muss sich an den realen Gegebenheiten orientieren.

 

 Ähnliches gilt für die Wirtschaftswissenschaft. Entwicklungen laufen eben selten auf die Dauer konstant. Um die Zuverlässigkeit einer Prognose bis 2040 zu bestimmen, lohnt es sich, die entsprechende Zahl von Jahren zurückzurechnen (also ist Mathematik nicht ganz sinnlos): 2040–2010=30; 2010–30=1980.

 

 Wir versetzen uns also ins Jahr 1980: Der deutsche Bundeskanzler heißt Helmut Schmidt, regiert in einer Koalition aus SPD und FDP und stellt sich dieses Jahr zur Wahl. Wie 30 Jahre später ist er in der Öffentlichkeit selten ohne Zigarette zu sehen – noch findet dies allerdings niemand ungewöhnlich oder würde es verbieten wollen.

 In der CDU wird darüber diskutiert, ob ein wiederverheirateter Geschiedener wie Kurt Biedenkopf Spitzenkandidat der Partei bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen sein kann.

 Die DDR liegt abgeschlossen hinter Mauer und Stacheldraht und niemand rechnet damit, dass sich dies in den nächsten Jahren ändert.

 Gerade sind die „Grünen“ gegründet worden, doch noch weiß niemand, ob sie zu einer ernstzunehmenden Partei werden. Politische Diskussionen drehen sich vor allem um den „NATO-Doppelbeschluss“ und die Strategie gegenüber dem „Ostblock“. Daneben wird Umweltschutz mehr und mehr zum Thema, nachdem Rhein und Elbe biologisch tot sind. Der Islam als Gefahr ist nahezu unbekannt, obwohl gerade im Iran eine fundamentalistische Bewegung unter Ayatollah Khomeini an die Macht gekommen ist.

 Bahn und Post sind Staatsbetriebe, ihre Mitarbeiter selbstverständlich Beamte. Eine umfassende Sozialversicherung ist selbstverständlich.

 Das Internet ist unbekannt. Auch der PC ist noch in der Entwicklungsphase. Autotelefone sind seltener Luxus, der Begriff ‚Handy’ niemandem geläufig.

 Das beliebteste Reiseland der Deutschen ist Italien, wenn auch Spanien und Jugoslawien sich als billigere Alternativen etabliert haben. Jugoslawien gilt außerdem als gelungenes Beispiel für das Zusammenleben verschiedener Völker. Die Türkei ist (neben Gastarbeitern, die ihre Verwandten besuchen) vor allem ein Ziel für Wagemutige, denen westlicher Komfort nicht wichtig ist.

 Von den südeuropäischen Staaten hat das EG-Land Italien allmählich gegenüber Mitteleuropa aufgeholt, während Spanien, Portugal und Griechenland noch bettelarm sind. Großbritanniens Wirtschaft befindet sich im freien Fall, weit hinter (West-)Deutschland und Frankreich und nur wenig vor Italien.

 In Polen hat Lech Wałęsa die erste freie Gewerkschaft im Warschauer Pakt gegründet. Im Gegenzug haben Militärs das Land unter Kriegsrecht gestellt.

 

 Welche Prognosen haben die Menschen für 2010? Vielleicht folgende:

*   „Hoffentlich greifen die Russen uns nicht an!“

*   „Bald wird auch die Donau umkippen.“

*   „Wenn wir noch mehr Raketen aufstellen, bricht irgendwann der Dritte Weltkrieg aus“

 

 Daneben gibt es noch seriösere:

*   „Noch gibt es genügend Berufstätige, aber bald gibt es zu viele Rentner. Das wird ein Problem“

*   „Vielleicht werden es Spanien und Portugal in die EG schaffen.“

*   „Großbritannien wird bald ein Entwicklungsland sein.“

 

 Hätte jemand die wirtschaftliche Entwicklung Italiens mit der Deutschlands verglichen, hätte er vielleicht festgestellt, dass das Land im Süden um das Jahr 2000 Deutschland überholen würde.

 Und Polen? Hoffnungsloser Fall! Hungerland! „Polnische Wirtschaft“ ist ja geradezu ein Synonym für Elend.

 

 Genug der Nostalgie, kehren wir zurück ins Jahr 2010.

 Deutschland ist wiedervereinigt. Den Warschauer Pakt gibt es nicht mehr und Russland ist keine Bedrohung. Die Grünen sind eine etablierte Partei und auch für die CDU/CSU kein rotes Tuch mehr. Jugoslawien existiert nicht mehr. Die Türkei lockt Billigurlauber in Scharen. Großbritannien hat sich gefangen, dafür hatte Italien mehrere Staatskrisen erlebt und wurde wirtschaftlich von Irland und Spanien überholt. Nicht nur Spanien und Portugal, auch die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten und sogar einige Sowjetrepubliken sind in der EU, wie die EG nun heißt. Nicht nur die Donau ist nicht umgekippt, in Köln wird ernsthaft wieder über Strandbäder am Rhein nachgedacht.

 Nur das Rentenproblem ist tatsächlich ungelöst. Dazu ist ein Problem der Integration von Ausländern gekommen.

 

 Wer konnte auch mit dem Zusammenbruch des „Ostblocks“ rechnen? Wer hätte geahnt, dass der islamische Terrorismus ein weltweites Problem würde?

 Und wer kann heute voraussehen, was in dreißig Jahren passieren wird?

 

 Bezüglich Polen lässt sich allerdings eines mit Sicherheit sagen: Wie Italien in den 70er und frühen 80er und Spanien in den 90er-Jahren wird auch Polen, falls seine Wirtschaft weiterhin wächst (und, in aller Bescheidenheit, sie tut es unter anderem durch deutsche Hilfe) irgendwann kein Billigland mehr sein und große Probleme haben, seine Wirtschaft umzustrukturieren. Im Gegensatz zu den beiden südlichen Ländern hat Polen auch keine Sonnenscheingarantie.

 Tatsächlich wäre Polen das erste Land in Europa, das einen erheblichen Rückstand gegenüber anderen aufholen könnte, ohne, dass irgendwann Probleme auftauchten. Auch außerhalb Europas mussten etwa Japan oder Südkorea die Erfahrung machen, dass man nicht auf ewig Billigland sein kann. Vielleicht wird China dasselbe passieren – sei es durch langsame Entwicklung oder durch den großen Knall einer Revolution, wenn das Volk nicht mehr im Interesse der wirtschaftlichen Entwicklung bereit ist, 7*20 Stunden die Woche zu arbeiten.

 

 Diese Überlegungen sollten eigentlich jedem Menschen klar sein – außer man ist Experte in Brüssel.

 

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